Hunderttausende Kinder fliehen vor Soldaten
Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge an der Grenze zwischen Birma und Bangladesch ist minderjährig – Unicef warnt vor dramatischer Lage
RAVENSBURG - In Birma geht die Armee mit unverminderter Gewalt gegen Angehörige der muslimischen Minderheit der Rohingya vor. Darunter leiden vor allem Kinder. Im benachbarten Bangladesch wird die Lage in den Flüchtlingslagern immer unerträglicher.
600 000 Menschen sind seit dem Beginn der birmanischen Militäraktion Ende August über die Grenze von Birma nach Bangladesch geflohen – und jeden Tag kommen Tausende weitere, schreibt das UN-Kinderhilfswerk Unicef in einem Bericht, der heute offiziell in Genf vorgestellt wird. Demnach sind vor allem Kinder vor den Soldaten geflüchtet – auf 320 000 beziffert der Unicef-Report ihre Zahl.
„Viele Rohingya-Kinder haben Gewalttaten gesehen, die kein Kind jemals sehen sollte“, berichtet Unicef-Exekutivdirektor Anthony Lake. „Diese Kinder brauchen dringend Nahrung, sauberes Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen und Impfschutz, um sie vor Krankheiten zu schützen, die sich in solchen Notsituationen verbreiten.“Die Gefahr von Seuchen und akuter lebensbedrohlicher Mangelernährung wachse täglich, heißt es im Unicef-Report.
Das Hilfswerk verteilt Nahrung, baut Latrinen und gibt Impfstoff aus. Zudem versucht Unicef, Orte zum Ausruhen und zum Spielen zu schaffen. Das soll Kindern die Möglichkeit geben, das Erlebte zumindest im Ansatz zu verarbeiten.
Im Golf von Bengalen gekentert
Um nach Bangladesch zu gelangen, mussten die Kinder entweder durch einen Fluss waten oder mit Schiffen durch den Golf von Bengalen fahren. Dabei kommt es immer wieder zu Unglücken. Erst vor gut einer Woche wurde ein Fall bekannt, bei dem zwölf Rohingya-Flüchtlinge mit ihrem Boot kenterten und starben – nach Polizeiangaben aus Bangladesch waren die meisten von ihnen unter 18 Jahre alt.
Nicht selten haben die Kinder erlebt, wie ihre Eltern oder Geschwister Gewalttaten zum Opfer fielen, berichten Flüchtlingshelfer vor Ort. Jean Lieby, der für Unicef die Kinderschutzprogramme in Bangladesch leitet, berichtet im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“von 1800 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die in den RohingyaLagern auf der bangladeschischen Seite der Grenze leben. „Wir haben zurzeit alle in Familien untergebracht“, so Lieby. Dafür bekommen die Familien – selbst Flüchtlinge – entsprechend zusätzliche Nahrung, Kleider oder Medikamente von den Hilfsorganisationen. Das sei auch nötig: „Sonst könnte es sein, dass die Familien die Jungen zum Arbeiten schicken, die Mädchen jung verheiraten oder als Mägde in die Stadt bringen.“
Hintergrund der Flüchtlingskrise ist ein seit langer Zeit schwelender Konflikt in Birma. Die Regierung in dem mehrheitlich buddhistischen Land betrachtet die muslimischen Rohingya nicht als Staatsbürger, sondern als illegale Zuwanderer aus Bangladesch, die sie dorthin zurückdrängen will.