Aufschrei der Frauen im Land der Charmeure
Der Fall Weinstein wühlt auch Frankreich auf – Sechs Jahre nach der Strauss-Kahn-Affäre soll nun das Sexualstrafrecht verschärft werden
PARIS - Ein Abend im Frühjahr 2010: An der Oper an der Bastille steht Richard Wagner auf dem Programm. Auf einem der VIP-Plätze sitzt die 20 Jahre alte Ariane Fornia, Tochter des damaligen Einwanderungsministers Eric Besson. Neben ihr ein älterer Unbekannter. „Nach zehn Minuten hat der alte Mann seine Hand auf meinem Schenkel“, erinnert sich die Schriftstellerin in ihrem Blog Itinera Magica. „Ich sage mir, dass er sehr alt und durcheinander ist und wehre ihn höflich ab. Er fängt wieder an. Er zieht meinen Rock nach oben und gleitet mit der Hand zwischen meine Beine.“Ariana Fornia erfährt in der Pause, wer der Mann ist, der sie in Begleitung seiner Frau belästigt: der frühere Minister Pierre Joxe. Der angesehene Sozialist, der unter François Mitterrand Innenminister war, weist die Vorwürfe zurück. Doch die Affäre um Harvey Weinstein zeigt, dass sich auch in Frankreich, dem Land der Charmeure, die Wahrnehmung geändert hat: Was vor Jahrzehnten noch als Galanterie durchgegangen wäre, wird nun zu einem handfesten Skandal.
Das Tabu gebrochen hatte vor gut sechs Jahren der Fall Dominique Strauss-Kahn. Dass der frühere IWFChef Frauen nachstellte, war schon vor den Vorfällen im New Yorker Luxushotel Sofitel bekannt. Doch Geschichten wie die der Journalistin Tristane Banon, über die „DSK“hergefallen sein soll wie ein „brünftiger Schimpanse“, interessierten die Öffentlichkeit kaum. Häufig profitierten die Täter von einer Omertà, einem Gesetz des Schweigens nach Art der italienischen Mafia. Erst nach und nach wagten sich die Opfer aus der Deckung. So, wie im vergangenen Jahr die frühere Sprecherin der Grünen, Sandrine Rousseau. Sie war 2011 vom stellvertretenden Vorsitzenden der Nationalversammlung, Denis Baupin, belästigt worden.
„Er hat mich gegen die Wand gedrückt, indem er meine Brüste hielt, und versuchte, mich zu küssen“, schilderte sie den Übergriff. Rousseau war nicht das einzige Opfer von Baupin: Zusammen mit ihr meldeten sich noch andere Frauen zu Wort, die ein Verfahren gegen den Grünen-Politiker anstrengten und ihn zum Rücktritt zwangen. „Ein unbestreitbarer Fortschritt sechs Jahre nach der Strauss-Kahn-Affäre, bei der einige das Verhalten des Ex-IWFChefs noch als ,Verführung auf französische Art’ verteidigten“, kommentierte die Zeitung „Le Monde“. Diese Zeiten sind endgültig vorbei, wie der Hashtag „Balancetonporc“(etwa: „Schwärze dein Schwein an“) zeigt. Bei Twitter hatte die Journalistin Sandra Muller unter diesem Stichwort vor einer Woche dazu aufgerufen, sexuelle Übergriffe bekannt zu machen. Innerhalb von nur sechs Tagen griffen mehr als 335 000 Nachrichten in den sozialen Netzwerken das Stichwort auf. „Schweine auf dem Grill“titelte die Zeitung „Libération“diese Woche.
Die Jungen wehren sich
Laut einer Umfrage waren 53 Prozent der Französinnen mindestens einmal Opfer sexueller Belästigung. Verurteilt werden pro Jahr allerdings nur rund 600 Fälle. Verfahren wie die von Sandrine Rousseau oder Tristane Baron werden wegen Verjährung eingestellt. „Die Frage der sexuellen Belästigung ist für 91 Prozent ein wichtiges Problem in Frankreich“, erklärte der Leiter des Instituts Odoxa, Gaël Sliman. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen den Generationen: Was die Älteren akzeptierten, wird von den jungen Frauen nicht mehr toleriert.“
Galionsfigur der Frauen, die null Toleranz zeigen, ist die Staatssekretärin für Gleichstellung, Marlène Schiappa. Die 34-Jährige kündigte für kommendes Jahr ein verschärftes Sexualstrafrecht an und wird darin von 80 Prozent der Franzosen unterstützt. Das neue Gesetz soll Belästigungen auf der Straße bestrafen, die Verjährungsfrist verlängern und ein Mindestalter für einvernehmlichen Sex festlegen. Ariane Fornia nimmt diese Entwicklung zufrieden auf. „Ich bin voller Hoffnung. In diesem Moment passiert etwas“, sagte sie der Zeitung „Le Figaro“. Die Frauen begehren auf. Sie werden mehr gehört und ihnen wird mehr geglaubt. Vielleicht entsteht durch dieses Leiden eine echte Veränderung.“