Eine Sängerin will durchstarten
Sopranistin Andrea Jörg schließt Gesangsstudium in München als Jahrgangsbeste ab
OBERSCHWARZENBERG - Opernoder Operettensängerin in einer großen Stadt zu sein, das könnte sich Andrea Jörg schon vorstellen. Sie liebt es, auf der Bühne zu stehen, zu singen, zu spielen. Die Voraussetzungen dafür hätte sie. Im Sommer hat die Sopranistin ihr Gesangsstudium in München abgeschlossen, mit der besten Note ihres Jahrgangs, einer 1,2. Und Erfahrungen auf größeren Bühnen konnte sie in den vergangenen Jahren auch sammeln, etwa am Münchner Gärtnerplatztheater und am Staatstheater Nürnberg.
Nun aber ist sie erst mal wieder zu Hause in Oberschwarzenberg, einem Dörfchen bei Oy mit herrlichem Blick in die Berge. Zurück in der vertrauten Umgebung, wo sie aufwuchs. Mit ihrem Freund wohnt sie gleich neben dem Bauernhof ihrer Eltern, sie unterrichtet Chöre und Sänger, und sogar einige Saxofonschüler der Musikkapelle Schwarzenberg. Ein paar Auftritte stehen auch an, etwa an diesem Wochenende in der Michaelskirche in Kempten, wo sie Werke von Bach, Händel und Mozart singt. Warum also das Allgäu verlassen, in eine Stadt irgendwo in Deutschland ziehen?
Genau in diesem Zwiespalt steckt Andrea Jörg derzeit. Unglücklich ist sie deswegen nicht. Ob sie Karriere auf den großen Bühnen machen möchte, womöglich mit vielen Ortswechseln, weiß sie sowieso nicht so recht. „Wenn ja, dann muss es was Besonderes sein.“Zugleich hat die 29Jährige, die gerne in die Berge geht und Ski fährt, ziemlich genaue Vorstellungen, wie ihr musikalischer Weg im Allgäu aussehen könnte: als Sängerin auftreten, dazu Unterricht geben, Stimmen bilden, Seminare anbieten. Die ersten Aufträge hat sie schon erhalten, etwa beim Kirchenchor von St. Martin in Memmingen. Was sie derzeit sucht: Pianisten für Konzertauftritte.
Klavierbegleiter müssten allerdings einiges drauf haben. Denn Andrea Jörg, die sich in den letzten Semestern ihres Studiums intensiv mit Liedgestaltung beschäftigte, möchte sich nicht auf Klassisches festlegen. Auf ihrer Visitenkarte steht neben „Sopranistin“und „Gesang“auch das Wort „Crossover“. Was nichts anderes bedeutet, als dass sich die Frau mit den blond gelockten Haaren nicht um Genregrenzen schert. Andrea Jörg hat keine Berührungsängste mit Musical, Chanson, Jazz, Pop oder Polka. Im Gegenteil. Ihr mache es riesigen Spaß, sich in allen möglichen Stilen auszutoben, sagt sie. „Crossover wird in den nächsten Jahren immer mehr kommen“, prophezeit sie.
Es müssen auch keine reinen Konzerte sein. Ende Dezember hat sie einen musikalisch-literarischen Abend mit dem Titel „Sagenhafte Rauhnacht“organisiert. Da wird sie nicht nur singen, sondern auch Allgäuer Sagen vorlesen. Andrea Jörg sprüht vor Unternehmungslust. Und die Vielseitigkeit könnte ihr Markenzeichen werden.
Keine Klassik-Puristin
Dass sie keine Klassik-Puristin ist, hat vermutlich mit ihrer Kindheit zu tun. Aufgewachsen ist sie in einer musikalischen Bauersfamilie. Der Großvater war ein Multiinstrumentalist, Vater Anton Jörg dirigierte jahrzehntelang die Musikkapelle Schwarzenberg. Kein Wunder, dass die kleine Andrea, die jüngste von vier Töchtern des Ehepaars Jörg, eine Klarinette in die Hand gedrückt bekam. Da war sie neun Jahre alt.
Eine größere Begabung war aber schon vorher offenbar geworden: Das Mädchen besaß eine tolle Stimme. Unterricht hatte Andrea zwar nie bekommen, und in einem Chor sang sie auch nicht. Aber der Vater erkannte und förderte das Naturtalent. Mit sechs Jahren schon sang Andrea zusammen mit ihm im Festzelt den Hit „Schön ist es auf der Welt zu sein“. „Er war mein Mentor“, sagt sie. Anton Jörg sieht das so: „Wir haben sie nie zu etwas gedrängt, sondern sie einfach unterstützt.“
Als Anton Jörg in der Zeitung las, dass das Ludwig-Musical in Füssen Kinder für die Rolle von Ludwigs Bruder Otto suchten, fuhr er Andrea kurzerhand zum Vorsingen. Sie wurde genommen und stand im Alter von zehn bis 13 Jahren 120 Mal auf der Bühne des Festspielhauses.
Danach erst nahm sie Unterricht, durfte später in Kurt Gäbles Blasmusik-Musical „Franziskus“die Clara singen. Nach dem Realschul-Abschluss in Kempten ging sie auf die Berufsfachschule für Musik in Krumbach. „Da wollte ich mich ausprobieren“, sagt Andrea Jörg. Fühlen und erfahren, ob die Musik nicht nur ein nettes Hobby sein, sondern auch ihr Beruf werden könnte. Am Ende der zwei Jahre war klar: Sie wollte sich als Sängerin durchs Leben schlagen. Die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule Würzburg klappte auf Anhieb. Da war sie gerade 18 geworden.
Sie tauchte in eine ganz neue Welt ein, lernte einen fremden Kosmos kennen. Zehn Jahre lang studierte sie, belegte Meisterkurse, sang kleine Rollen in Opern, Operetten und Musicals, gewann nebenher Stipendien und Preise. Nun steht sie erneut an einem Scheideweg. Das Allgäu oder die weite Welt? Kleine Säle oder große Bühnen? Oper, Operette oder Crossover?
Andrea Jörg hat viel erreicht. Aber jetzt geht es erst so richtig los.