Morrissey lädt zur Nabelschau
Der britische Musiker hat sein neues Album „Low in a High-School“veröffentlicht
LONDON (dpa) - Wer wie Morrissey mit den Smiths Musikgeschichte geschrieben hat, muss sich schon gewaltig ins Zeug legen, um das eigene Denkmal ins Wanken zu bringen. Dass er es in den vergangenen Jahren trotzdem nicht wenigstens versucht hätte, kann man dem 58-jährigen militanten Vegetarier jedenfalls nicht vorwerfen: sei es mit Lob für BrexitWegbereiter und Rechtspopulisten Nigel Farrage oder der Bezeichnung des Amoklaufs des Norwegers Anders Behring Breivik als „Nichts“im Vergleich zum Betrieb von FastFood-Restaurants.
Am 17. November ist Morrisseys elftes Studioalbum „Low in High School“erschienen – und belehrt jeden eines besseren, der allmählich Altersmilde erwartet hatte. Stellenweise verschärft er sogar den Eindruck, um den er sich mit streitbaren Äußerungen seit dem Vorgänger-Album „World Peace Is None of Your Business“bemüht hat: Morrissey, der als Frontmann der legendären Smiths schön und traurig über Sehnsucht, Außenseitertum, Liebe und Rebellion sang, scheint ein „Angry White Man“geworden zu sein – eine Spezies, die spätestens seit dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus ein Revival erlebt.
Und so klingt es nicht grundsätzlich anders als die Presseschau im Oval Office oder Anhänger der AfD auf Facebook, wenn der 58-Jährige auf dem Langspieler gegen die „Propaganda“der „Mainstream Medien“wettert oder in der ersten SingleAuskopplung „Spent The Day in Bed“trällert, er empfehle all seinen Freunden, keine Nachrichten mehr zu schauen, weil die „News“die Leute „ängstigen“und „klein halten“wollten. Eine schlimmere Gesamtkritik an der Welt kann man nicht formulieren, als dass sie es nicht wert sei, aufzustehen.
Dass am Ende nicht ganz klar ist, bei welchen Äußerungen es sich um Koketterie handelt, um Überzeugung oder bloßes Exzentrikertum, ist Teil der Marke Morrissey. Denn was wie ein Bruch mit der alten Identität wirkt, ist letztlich eine Konstante: Wie schon in den 80ern, als die Smiths den Weg für ganze Generationen von Indie-Bands ebneten, beweist der Musiker auch heute Gefühl für Gruppen, die sich dem Zeitgeist entgegenstellen. Nur, dass diese Menschen ganz anders aussehen und reden als damals – und wahrscheinlich auch niemals Platten von Morrissey oder den Smiths kaufen würden.
Eine weitere Parallele zum früheren Ich sind die Gefühlslandschaften, die Morrissey ausbreitet. Es sind Themen, die ihn auch als junger Mann beschäftigten: das Empfinden, ein Außenseiter zu sein, unerfüllte Sehnsüchte, Skepsis gegenüber Autoritäten und ein gewisses Leiden am „Gesamtzustand“.
Liebe bleibt Universalmedizin
Doch es wäre nicht Morrissey, würde er die Zweifel an seinem OEuvre nicht an anderer Stelle wieder zerstreuen. In der Antikriegs-Hymne „I Bury the Living“etwa führt er den inneren Monolog eines Soldaten. Den tendenziell eher pazifistischen Anhängern aus Smiths-Zeiten dürfte das Psychogramm zusagen: „Gib mir einen Befehl und ich sprenge eine Grenze, gib mir einen Befehl und ich sprenge deine Tochter“, singt er. Und: „Nenn mich mutig, nenn mich einen friedensstiftenden Helden. Nenn mich, wie du willst, nur nicht das, was ich bin.“
Auch die Widerstands-Hommage „The Girl from Tel Aviv Who Wouldn’t Kneel“und die gleichnamige Liebeserklärung an „Israel“, die zugleich Kritik an der Regierungspolitik ist, wirkt angesichts der jüngeren Ausfälle Morrisseys wie ein Versöhnungsangebot. Szenarien eines Atomkriegs, wie sie aktuell durch das Säbelrasseln zwischen dem koreanischen Diktator Kim Jong-un und Donald Trump befeuert werden, setzt der 58-Jährige mit „All The Young People Must Fall in Love“die Universalmedizin der Popkultur entgegen: Liebe.
Dass sein Gesang dabei in guten Momenten noch an die herzzerreißende Stimmgewalt seines jungen Ich erinnert, dürfte für Fans des Briten ein Argument sein, das alle anderen Fragen aussticht.