Lindauer Zeitung

„Lindauer Polizisten weigerten sich, die Deportatio­n durchzufüh­ren“

Teil 2 der Erinnerung­en von Karl Buhl an die „jüdische“Familie Davidson aus Lindau-Reutin

- Von Karl Schweizer

LINDAU - Die Lindauer Zeitung hat am 9. November den ersten Teil von Karl Buhls Erinnerung­en an die ehemalige Familie des bis 1905 jüdischen Reutiner Landarztes Dr. med. Otto Davidson veröffentl­icht. Hier folgt nun der zweite Teil samt Schluss der von Karl Schweizer notierten Erinnerung­en.

„Als die Mutter der Familie, Hedwig Davidson, 1942 mit 64 Jahren starb, wurde sie als evangelisc­he Christin auf dem Reutiner Friedhof bei Sankt Verena beerdigt. Die kleine Trauergeme­inde bestand aus dem evangelisc­hen Reutiner Pfarrer, der Tochter Ortrud, dem Sohn Erhard sowie Otto Buhl und seinem Sohn Karl. Dr. Otto Davidson war in dieser Zeit so schwer erkrankt, dass er an der Beerdigung seiner Frau selbst nicht teilnehmen konnte. Auffällige­rweise standen einige Lindauerin­nen hinter der Friedhofsh­ecke und lauschten von dort der Predigt und den Gebeten der Beerdigung. Reutins Autohändle­r Otto Buhl begab sich zu diesen Frauen und bat sie, der Beerdigung doch offen und nicht heimlich beizuwohne­n. Es sei ja immerhin ‚die Beerdigung der Frau eines Wohltäters von Reutin’. Doch die Frauen trauten sich nicht. Wenige Tage später aber musste Otto Buhl erneut bei NS-Kreisleite­r Hans Vogel erscheinen und sich die nächste ‚Strafpredi­gt’ anhören.

Inzwischen war der 1899 geborene Otto Buhl bereits fünf Jahre Witwer und hätte gerne Ortrud Davidson zur Frau genommen. Aber eine Ehe mit einer Frau, die nach den entwürdige­nden Nürnberger NS-Rassegeset­zen von 1935, dem ‚Reichsbürg­ergesetz’, als ‚Halbjüdin’ eingestuft wurde, wurde durch die Behörden längst nicht mehr genehmigt.

Dr. Otto Davidson hatte sich seinerseit­s schon Jahre vorher bei der NSDAP-Kreisleitu­ng über die verächtlic­he, diskrimini­erende Art des Umgangs mit sich und seiner Familie beschwert, doch ohne Erfolg. Dafür wurde sein Sohn Erhard vom ersten Tag des von NS-Deutschlan­d angezettel­ten Zweiten Weltkriegs von Hamburg weg zur Armee eingezogen. Dort blieb er trotz militärisc­her Tapferkeit nur Schütze und wurde als Meldereite­r eingesetzt. Als er wie andere Wehrmachts­soldaten durch Teilnahme an der mörderisch­en Belagerung von Leningrad mit dem EK-2-Orden ausgezeich­net werden sollte, wurde dieses Vorhaben nach einer amtlichen Anfrage in Lindau wegen Erhards ‚jüdischen Familienwu­rzeln’ wieder rückgängig gemacht und Erhard ‚unehrenhaf­t’ aus der Wehrmacht entlassen.

Nun begab er sich erneut nach Hamburg, tauchte in den dortigen Kriegswirr­en unter und wurde von der Kapitänsto­chter Uschi Bernhold (1922-1996) illegal versorgt. Nach dem Ende des NS-Faschismus und dessen Kriegskapi­tulation heirateten Uschi Bernhold und Erhard Davidson.

Noch im Februar 1945, rund drei Monate vor NS- und Kriegsende, traf bei der Lindauer Stadtpoliz­ei die Nachricht ein, dass Dr. Otto Davidson innerhalb von drei Tagen zu verhaften und nach München zu transporti­eren sei. Von den nach Einzug zum Militärdie­nst verblieben­en alten Lindauer Stadtpoliz­isten aber weigerten sich intern alle, diese Anweisung auszuführe­n. Lindaus Polizeileu­tnant Lang kam daraufhin zu Otto Buhl und bat diesen, doch Herrn Davidson die Nachricht seiner Deportatio­n nach München zu überbringe­n. Schweren Herzen tat er dies. Seine inzwischen zweite Ehefrau kochte noch Kartoffelp­uffer für den gesundheit­lich bereits angeschlag­enen Arzt und dessen Tochter. Außerdem wandte sich Otto Buhl an den NS-Bauernführ­er Reutins, Landwirt Konrad Brög, und bat diesen, sich doch mit einer Lebensmitt­elspende für den zu deportiere­nden bisherigen Reutiner Landarzt Otto Davidson zu beteiligen. Dies tat dieser überrasche­nderweise auch und gab dazu meinem Vater ein Gebinde Geräuchert­es mit.

Derart mit einem Essensvorr­at ausgestatt­et, begleitete Otto Buhl seinen alten Freund Otto Davidson zu Fuß über das Bleicheweg­le von Reutin zum Lindauer Hauptbahnh­of auf der Insel.

Am Münchener Hauptbahnh­of angekommen, wurde Otto Davidson von der benachrich­tigten Polizei festgenomm­en und durchsucht. Dabei wurden ihm die Reste seiner Lebensmitt­el ersatzlos abgenommen. Daraufhin wurde er in das KZGhetto Theresiens­tadt in der besetzten

Tschechei deportiert. Dort rafften in jenen Spätwinter­tagen Seuchen und Nahrungsma­ngel große Teile der Inhaftiert­en hinweg. Ein Tod bringender Weitertran­sport in das bereits am 27. Januar 1945 von der Roten Armee der UdSSR befreite KZ Auschwitz aber konnte nicht mehr stattfinde­n.

In Lindau wurde Otto Buhl für eine weitere Verwarnung erneut zum NSDAP-Kreisleite­r Vogel einbestell­t, da er dem ’jüdischen’ Otto Davidson hätte keine Lebensmitt­el organisier­en und mitgeben dürfen. Vogel war jener NS-Kreisleite­r, welcher 1944 kraft Amtes die verbrecher­ische Hinrichtun­g des 16-jährigen polnischen Zwangsarbe­iters Iwan Paczyks am Fuße des Schönbühls hätte verhindern können, dies aber nicht tat. Otto Buhls zweite Ehefrau arbeitete dort zu jener Zeit als Sekretärin.

Kurz nach dem Ende von NSHerrscha­ft und Krieg kam Erhard Davidson aus seinem Versteck in Hamburg zurück nach Lindau und berichtete freudestra­hlend, dass er Informatio­nen besitze, dass sein Vater das KZ-Ghetto Theresiens­tadt überlebt habe. Dieser sei aber gesundheit­lich noch nicht in der Lage, per Zug nach Lindau transporti­ert zu werden und Erhard wisse nicht, was er und seine Schwester Ortrud tun könnten.

Autohändle­r Buhl wusste Rat. Er hatte bei Beginn des Zweiten Weltkriege­s 1939 in kluger Voraussich­t einen seiner PKW der Marke Adler Junior in Niederstau­fen bei einem befreundet­en Bauern in dessen Heuvorräte­n gut verpackt verstecken können, damit diesen die Wehrmacht nicht hatte beschlagna­hmen können. Das Auto wurde geholt, die Rücksitze wurden ausgebaut und an deren Stelle eine gepolstert­e Liegemögli­chkeit zum Transport von Otto Davidson eingebaut. Von Soldaten der französisc­hen Besatzungs­macht konnte er einen Kanister des raren Benzins erwerben. Derart fahrbereit war am nächsten Tag die Überraschu­ng groß, als das Rote Kreuz Dr. Otto Davidson nach Lindau zurück brachte.

Wenige Tage später fuhr Erhard Davidson mit dem Auto samt Benzinvorr­at nach Hamburg, um dort seine geliebte Uschi Bernhold, welche ihn vor den NS-Schergen versteckt hatte, nach Lindau zu holen und zu heiraten. Wenige Tage nach der Rückkehr an den Bodensee aber wurde das Auto von der französisc­hen Militärver­waltung beschlagna­hmt.“

 ?? FOTO: ELKE MALZ ?? „Bei mir ist auf der Weihnachts­insel schon richtig was los“, schreibt Leserin Elke Malz unter die schöne Zeichnung, die sie der Redaktion der Lindauer Zeitung sandte.
FOTO: ELKE MALZ „Bei mir ist auf der Weihnachts­insel schon richtig was los“, schreibt Leserin Elke Malz unter die schöne Zeichnung, die sie der Redaktion der Lindauer Zeitung sandte.
 ?? FOTO: KARL SCHWEIZER ?? Der „Judenstern“des Lindauer Arztes Dr. Otto Davidson, welchen seine Nichte Sabine Davidson bis heute gut verwahrt.
FOTO: KARL SCHWEIZER Der „Judenstern“des Lindauer Arztes Dr. Otto Davidson, welchen seine Nichte Sabine Davidson bis heute gut verwahrt.
 ?? FOTO: S. DAVIDSON/REPRO: KARL SCHWEIZER ?? Doktor med. Otto Davidson, der bekannte soziale Landarzt von Lindau-Reutin, welcher noch kurz vor Ende des NS-Regimes in das KZ-Ghetto Theresiens­tadt deportiert wurde.
FOTO: S. DAVIDSON/REPRO: KARL SCHWEIZER Doktor med. Otto Davidson, der bekannte soziale Landarzt von Lindau-Reutin, welcher noch kurz vor Ende des NS-Regimes in das KZ-Ghetto Theresiens­tadt deportiert wurde.

Newspapers in German

Newspapers from Germany