Von Schuld und ein bisschen Sühne
Mit „Songs of Experience“erscheint jetzt das neue U2-Album
BADEN-BADEN - Es könnte alles so einfach sein. Ist es aber nicht. Nachdem das letzte U2-Album von einer kontrovers diskutierten GratisDownload-Aktion und einem bösen Fahrradunfall Bonos überschattet war, durchkreuzen jetzt unangenehme Finanzenthüllungen rund um die „Paradise Papers“die Veröffentlichung von „Songs of Experience“(Universal Music).
Aber lassen wir das Wirtschaftliche außen vor und konzentrieren uns auf die Musik. Wer „Songs of Experience“, das vierzehnte Studioalbum von Bono, The Edge, Adam Clayton und Larry Mullen jr., als Rückbesinnung auf die Wurzeln von U2 beschreibt, der liegt goldrichtig. Das Album als solches hat die berechtige Kritik und die teils überzogene Häme, die jetzt auf Bono (57) einprasseln, jedenfalls nicht verdient. „Songs of Experience“ist ein vielschichtiges, üppiges und über weite Strecken beseelt vorgetragenes (Spät)werk der vier Iren. „Uns war wichtig, dass die Songs ohne Tricks funktionierten“, so Bono gegenüber dem US-„Rolling Stone“. „Jedes Stück haben wir probeweise im Studio quasi nackt ausgezogen und gespielt. Nur wenn es uns dann immer noch bewegte, kam es aufs Album.“Die Balance zu halten zwischen klassischen U2 und dem Zulassen moderner Einflüsse, das sei eine wichtige Überlegung gewesen. „Wir wollen definitiv Teil der aktuellen Musikkultur sein und nicht nur eine Altherrenband“, so Gitarrist The Edge, der wie seine Bandkollegen dem sechzigsten Geburtstag inzwischen näher ist als vom fünfzigsten entfernt. „Produktion, Songwriting und Melodiestruktur sollten zugleich unmissverständlich U2 sein.“
Viele Produzenten mischen mit
Das hat alles in allem funktioniert. Wieder hat die Band mit einer Vielzahl von Produzenten gearbeitet, die mal eher dem Pop, mal eher dem Rock und auch mal einem Hauch von Hip-Hop-Einfluss zugeneigt sind, mit von der Partie sind Jacknife Lee, Ryan Tedder, Steve Lillywhite, Andy Barlow und Jolyon Thomas. Und während man schrieb und aufnahm und zwischendurch auch noch die große Welttournee absolvierte, verfinsterte sich die weltpolitische Gesamtsituation zusehends, und diese Entwicklung habe man aufnehmen wollen in die Lieder. So überarbeitete man zum Beispiel „The Blackout“, eine musikalisch total lustige, tanztaugliche Disconummer, textlich jedoch die Geschichte „einer persönli- chen Apokalypse, die sich zur politische Dystopie ausweitet“.
Und dennoch: Die Liebe bildet das thematische Herz dieses Albums. Mit „Love Is All We Have Left“beginnt die Platte auf stille, akustische, zu Herzen gehende Weise. „This Is Not The Time Not To Be Alive“, singt Bono, und man ist gerührt. Auch das finale „13 (There Is A Light)“klingt zart und zärtlich, aber etwas hymnischer. Dazwischen spielt sich eine Menge ab. Gitarre, Bass und Schlagzeug erklingen wieder ruppiger und kantiger als auf dem doch recht uneckig produzierten „Songs of Innocence“von 2014, speziell „Lights of Home“lässt die Gitarren schnarren, während Drummer Mullen auf „American Soul“ordentlich Druck macht und sich Bassist Clayton auf „Red Flag Day“austoben darf. Und logisch ist auch, dass es ganz ohne Anti-Donald-TrumpWut nicht geht. „Wäre komisch gewesen, wenn wir Trump ignoriert hätten“, sagt The Edge, und so bekommt der US-Präsident im Text von „American Soul“ein paar kräftige und hochverdiente Hiebe in die Seite, die sich jetzt im Nachhinein fast wie eine Selbstanzeige Bonos aufgrund seines jüngst zutage getretenen Steuervermeidungsverhaltens lesen. „Blessed Are The Liars Because The Truth Can Be Awkward“, singt er etwa, also „Gesegnet sind die Lügner, denn die Wahrheit kann peinlich sein“. Auch die Zeile „I Lie For A Living“(„Ich bin ein Lügner von Beruf“) aus „The Showman“liest sich neuerdings nicht mehr zwingend wie ein Angriff auf Donald Trump und Halbdespoten-Konsorten. Musikalisch ist der Song schön funky bis sexy, alte Fans könnten sich an „New Year‘s Day“erinnert fühlen.
Den Umständen zum Trotz
Aber es gibt natürlich auch einige große Balladen. „The Little Things That Give You Away“ist ruhig und erhaben und schön, zugleich geht Bono hier erneut recht kritisch mit sich ins Gericht und wird sehr persönlich. „Landlady“ist hübsch und intim, während „Love Is Bigger Than Anything in Its Way“mit großen Chören das U2-hymnigste aller neuen Lieder ist. Richtig poppig werden sie – so man vom eingängigen „You’re The Best Thing about Me“absieht – nur einmal: „Summer of Love“erinnert ein wenig an einen Robin-Schulz-Hit, aber dafür geht es hier inhaltlich umso tiefer – Bono singt über einen Kleingärtner in Aleppo, der sich trotz widrigster Umstände nicht unterkriegen lässt. Vielleicht aber singt Bono auch ein bisschen über sich selbst.