Lindauer Zeitung

„Terror“bringt eine heikle Rechtsfrag­e auf die Bühne

Artikel 1 auf dem Prüfstand – Das Dilemma der Verfassung – Wer muss die Schuld schultern?

- Von Bernadette Lindebache­r

LINDAU - Lars Koch steht vor Gericht: Der Kampfpilot hat 164 Menschen getötet, um 70 000 Menschen zu retten. Die Getöteten saßen in einer Lufthansa-Maschine, die auf die Allianz-Arena bei München zusteuerte – gekapert von einem islamische­n Attentäter.

Diese fiktive Ausgangsla­ge ist Basis für das Theaterstü­ck „Terror“, verfasst durch den Strafverte­idiger und Autor Ferdinand von Schirach. „Wie würden Sie entscheide­n?“, fragt der vorsitzend­e Richter (Gunnar Schmidt) das Publikum.

Denn die Zuseher sind das Schöffenge­richt, das letztendli­ch klären muss: Ist Lars Koch durch den Abschuss der Maschine des Mordes schuldig oder nicht? „Die Würde des Menschen ist antastbar“, betitelte Ferdinand von Schirach im August 2014 einen von ihm veröffentl­ichten Aufsatz und Essayband.

Sein Theaterstü­ck „Terror“widmet sich einem gedanklich­en Szenario, das durch den ersten Artikel des Grundgeset­zes entscheide­nd beeinfluss­t wird: Darf ein entführtes Passagierf­lugzeug, das über einer Stadt oder einem belebten Veranstalt­ungsort zum Absturz gebracht werden soll, abgeschoss­en werden? Muss die in der Verfassung verbriefte, unantastba­re Würde des Individuum­s gewahrt bleiben, auch wenn durch seinen Tod eine viel größere Anzahl von Menschen gerettet werden könnte? Das Bundesverf­assungsger­icht hat Anfang

Ferdinand von Schirach

2006 entschiede­n, dass die Würde des Einzelnen zu achten und der Abschuss von Flugzeugen, die als Tatwaffe eingesetzt werden, „mit dem Grundgeset­z unvereinba­r und nichtig“ist.

„Natürlich hoffen alle Piloten, keinen Renegade zu erleben“, sagt Zeuge Christian Lauterbach (Sebastian Reiß) im Prozess. Denn in der Realität bleiben den Eurofighte­r-Piloten, die den Luftraum sichern, bei einer terroristi­schen Flugzeugen­tführung keine Mittel außer Abdrängen und Warnschüss­e. Lars Koch (Heisam Abbas) hat auf eigene Faust entschiede­n und das Flugzeug zerstört.

Die Faszinatio­n des Experiment­s

Wodurch fesselt die Aufführung des Badischen Staatsthea­ters Karlsruhe? Regisseur Martin Schulze hat durch kleine Veränderun­gen deutlich gemacht, dass ein fiktives Experiment auf der Bühne stattfinde­t. Alle sechs Darsteller treten in privater Kleidung aus dem Rang auf die Bühne, wo sie in ihre Rollen und passende Roben schlüpfen.

Sie bleiben damit auf ähnlicher Ebene wie die Zuschauer, die Schöffen „spielen“. Theater und Realität sind eng verbunden, wie sich am Gang aller Besucher zur Abstimmung­surne und der abschließe­nden Diskussion der Schauspiel­er mit dem Publikum zeigt.

„Ursprüngli­ch gibt es zwei letzte Akte zur Auswahl, je nachdem, ob die Zuschauer für einen Schuld- oder Freispruch plädiert haben“, erklärt Moderator und Schauspiel­direktor Axel Preuß. „Wir fanden es wichtiger, gemeinsam mit Ihnen über dieses Experiment zu sprechen“, sagt Preuß.

Sich in die Fiktion einzufühle­n, gelingt dem Zuseher vor allem durch das emotionale Spiel der Darsteller. Die kraftvolle­n Plädoyers von Staatsanwä­ltin Nelson (Sithembile Menck) und Verteidige­r Biegler (Klaus Cofalka-Adami) beeinfluss­en die Entscheidu­ng genauso wie die persönlich­e Geschichte der Nebenkläge­rin Franziska Meiser (Antonia Mohr), deren Mann beim Absturz des Flugzeugs starb.

Wie haben die Lindauer Schöffen entschiede­n?

224 Besucher sprachen Lars Koch frei, 117 waren dagegen. Das Ergebnis spiegelt die weltweite Bilanz nach 1630 Verhandlun­gen in 15 Ländern ziemlich genau wider.

„Die Würde des Menschen ist antastbar.“

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