Plötzlich mitten im syrischen Krieg
Schüsse und Explosionen: Das Stadttheater Lindau holt den syrischen Krieg auf die Bühne
LINDAU - Auf der Bühne des Lindauer Stadttheaters fallen Bomben, unter den Brettern sind Tretminen versteckt. Soldaten schreien und drohen Hilflosen mit ihren Maschinengewehren: Der Krieg in Syrien ist im englischsprachigen Stück „My sister Syria“ganz nah und erschreckend real.
„Wir sind keine Politiker. Das ist ein Thriller. Wir sind Schauspieler und Künstler“, tönt eine Ansage durch das dunkle Theater. Wie ein Warnhinweis vor einem Film ab sechzehn klingt das. Im Raum ist es mucksmäuschenstill – Schüler ab der sechsten Klassenstufe warten gespannt, was auf sie zukommt.
Die Britin Rachel (gespielt von Siobhan Gerrard) arbeitet für eine Hilfsoganisation in London. Dort baut sie Netzwerke auf, um Syrern bei der Flucht zu helfen. Sie setzt sich für andere ein – selbst wenn sie das in Gefahr bringt. Ihre Hilfsbereitschaft führt dazu, dass sie der Geheimdienst als Spionin nach Syrien schickt.
Dort soll sie einen General zurückholen, der die prowestliche Opposition in Syrien verteidigt, nun aber von Islamisten immer stärker verdrängt wird. General Fatima vertraut dem westlichen Militär nicht, sie verlangt nach Rachel: Die will zuerst nicht, will aber unbedingt ihrer syrischen Freundin Razan helfen. Rebellen haben nämlich die Menschenrechtsanwältin entführt und halten sie gefangen. Unter der Voraussetzung, dass der Geheimdienst dabei hilft, Razan zu befreien, willigt Rachel schließlich ein, nach Syrien zu gehen.
Rachel wird permanent fremdbestimmt
Doch Rachel wird nun, entgegen ihren Gewohnheiten, permanent fremdbestimmt. Auf ihren Einwand hin, dass sie kein Arabisch spreche, antwortet Geheimagent James (Gareth Radcliffe) schlicht: „Gut, dann musst du unseren Befehlen folgen.“
Los geht die abenteuerliche Reise: Ein Agent verpasst Rachel einen russischen Ausweis und ein Kopftuch. Dann muss sie ins Flugzeug in die Türkei steigen und sich von dort aus in einem Lastwagen auf den Weg nach Damaskus machen. Schon kracht und donnert es auf der Bühne: Fliegerbomben fallen, der Lastwagen ist zerstört. Rachel überlebt, sie ist aber auf der Straße vollkommen schutzlos. Zum Glück nimmt sie eine syrische Familie gastfreundlich auf. Rachel erlebt in der Familie, was dieser Krieg für die Menschen bedeutet. Die Mutter bedauert, dass sie sich und ihre Familie nicht vor dem Krieg getötet hat. Die Schauspielerin Lana Miller spielt eindrucksvoll die Rolle der wütenden und verstörten Tochter. Sie sticht immer wieder mit einem Messer in einen imaginären Feind und schreit laut einen Namen: „Assad, Assad, Assad!“
„Krass...“, murmeln Schüler im Publikum und drehen sich erschreckt zu ihren Sitznachbarn um. Während dessen muss sich Rachel schon wieder auf den Weg machen. James hat ihr einen syrischen Fahrer organisiert. Safid (alias Ali Nakeeb) soll die Spionin auf ihrer Mission begleiten. Auf einer Party entdeckt Rachel das unerwartet moderne Leben in der Kriegsregion. Sie trifft wenig später aber auf Kinder, die weder Schulbildung, Eltern noch eine gewisse Zukunft haben. „Bald wird das ein Land voller Idioten sein“, sagt Safid zynisch.
Außerdem besucht Rachel Journalisten, die verzweifelt versuchen, im Internet über alle Kriegsopfer und Angriffe zu berichten. Dabei sind sie ständig in Lebensgefahr. Sie raten Rachel zu gehen, da sie hier nicht helfen könne.
Suche nach Razan führt Rachel tief in den Krieg
Rachel entscheidet trotzdem die Soldatin General Fatima (gespielt von Lana Miller) zu finden. Licht- und Schattenspiele, Flugzeuglärm und Explosionen erhöhen die Spannung. Sie lassen die Zuschauer frösteln oder staunen, versetzen sie mitten in den syrischen Krieg.
Die Gefahren auf der Bühne nehmen weiter zu: Rebellen bedrohen Rachel und Safid mit Maschinengewehren, Bomben fallen um sie herum und ein Minenfeld blockiert ihre Reise.
Das Publikum zittert mit, als Rachel und Safid vorsichtig Fuß um Fuß aufsetzen, um die Minen zu meiden und einige Zuschauer zucken zusammen als Safid plötzlich fällt. Den Schockeffekt haben Ali Nakeeb und Siobhan Gerrard durch ihr großartiges Schauspiel erreicht: Sie haben die Ängste vor einer explodierenden Mine real werden lassen.
Das Theaterstück von Paul Stebbings hält viele solche erschreckende, aber auch schöne oder gar lustige Überraschungen bereit. Durch eine unerwartete Wendung bleibt der Plot bis zum Ende spannend. Abschließend erzählt das Stück hautnah von der gefährlichen Reise, die Fatimas Sohn Hasan (alias Lama Amine) nach Deutschland bringt. Die Schüler waren bis zum letzten Moment aufmerksam und gespannt. Beim Applaus war dann die Erleichterung greifbar.