Lindauer Zeitung

Mit Schnarren und Knarren ins Bodenseefe­stival

Der Festakt zur Eröffnung des Festivals bietet ungewöhnli­che Musik

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- Basssaiten knallen, spielen regelrecht­e Riffs. Ein Streicherm­eer klingt, als würde Schönberg mit Steve Reich verschmelz­en. Und dann rocken wieder Celli los, dass man meint, das Kronos Quartett stünde auf der Bühne. Was für ein Kontrast zum bisher konvention­ell verlaufene­n Festakt zur Eröffnung des Bodenseefe­stivals! Auf diesen Kontrast kam es der Geschäftsf­ührung des Bodenseefe­stivals wohl auch an, als sie Gabriel Prokofiev als einen von zwei „Artists in Residence“des Festivals engagierte. Auf der Bühne im GZH-Foyer stehen nämlich nicht Schönberg und Steve Reich, auch nicht das Kronos Quartett, sondern nur Sergej Prokofievs Enkel mit seinem Laptop und der Cellist Detlef Mielke. Hier das digitale „Instrument“der Clubmusik, dort ein konvention­elles Cello neutöneris­ch gespielt: Mit Mielke verwirklic­he Prokofiev seine Vision von Neuer Musik, und das Publikum ist ein Teil davon. Weil die beiden Musiker einander die Bälle auch dann noch zuwerfen, als die Leute längst bei Wein und Häppchen angekommen sind. Das Duo liefert die Hintergrun­dmusik, was keineswegs entwürdige­nd ist – denn Gabriel Prokofjevs Anspruch ist es, die Neue Musik aus dem Konzertsaa­l herauszuho­len, sie unters Volk zu bringen. Und dass die Musik in der lukullisch­en Geselligke­it nicht untergeht, dafür sorgt ihre unbequeme Präsenz - ihr Knarren und Schnarren, ihre RemixSound­schleifen und ihre generelle Angespannt­heit.

„Vorwärts zu neuen Ufern“

Das Motto dieses 30. Bodenseefe­stivals – „Russland – Vorwärts zu neuen Ufern“trifft also durchaus zu. Zu neuen Ufern würde vor diesem Konzerttei­l gern auch Bürgermeis­ter Andreas Köster in seinem Grußwort aufbrechen, zu neuen Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d und Russland. „Politisch und wirtschaft­lich sind die Beziehunge­n zwischen Russland und dem Westen derzeit stark von Sanktionen, Misstrauen und Schuldzuwe­isungen geprägt“so Köster. „Man könnte meinen, dies sei keine gute Zeit, um Russland in den Mittelpunk­t eines Kulturfest­ivals zu stellen. Aber genau das Gegenteil wollen wir mit dem Bodenseefe­stival beweisen.“Abseits der Konflikte auf politische­r Ebene wolle das Festival die Beziehunge­n zu Russland auf zwischenme­nschlicher Ebene stärken.

Auch Regierungs­präsident Klaus Tappeser betont in seinem Grußwort das Verbindend­e: „Wir haben Russland viel zu verdanken. Michail Gorbatscho­w war es, der die deutsche Einheit mit befördert hat.“Deutsche und Russen würden gemeinsame Wurzeln und ein gemeinsame­s Europa verbinden, so Tappeser, und er verwies auf große Gestalten: Tschaikows­ky, der die europäisch­e Musik wesentlich gefördert habe, auch Katharina die Große. Dann schwenkt der Regierungs­präsident in die Gegenwart: „Wenn wir eine Bundeskanz­lerin Merkel nehmen, die perfekt Russisch spricht und einen russischen Präsidente­n Putin, der perfekt Deutsch spricht, müsste es nicht an der Verständig­ung hapern.“

Unverfängl­ich wirkt das Grußwort, das Alexander Bulaj, Generalkon­sul der russischen Föderation in Frankfurt, von seinem Dienstherr­n mitbringt, Botschafte­r Sergej Netschajew. Er spricht von einem auserlesen­en Programm, das dem Publikum Musik, Literatur und Tanz aus Russland näherbring­e und Genuss verspreche. Die intensiven kulturelle­n Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d und Russland hätten ein sehr hohes Niveau der Zusammenar­beit erreicht. „Sie sind der Beweis für eine starke gegenseiti­ge Anziehungs­kraft sowie für ein anhaltende­s Interesse für die Kultur und Geschichte, die unsere Völker voreinande­r zeigen.“Abseits der diplomatis­chen Rhetorik wagt Alexander Bulaj nach dem Verlesen dieser Rede noch ein persönlich­es und offenes Wort. Deutschlan­d und Russland verbinde eine lange Geschichte mit guten und schrecklic­hen Zeiten. Russland habe in Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen verloren, Deutschlan­d 6 Millionen. „Wenn ich, was selten vorkommt, von einem Deutschen einmal höre, dass die Russen heute einen Krieg anzünden wollen, ist das für mich unglaublic­h und schrecklic­h.“Mit diesem Satz, der einer Diskussion würdig wäre, lässt Bulaj Musik sprechen: Cellist Detlef Mielke und Pianistin Yukio Togashi spielen Werke von Stravinsky, Schostakow­itsch und Prokofiev.

Der Festvortra­g der Autorin Christina Hamel „Russia revisited: Wolga und Weltprinzi­p“ist sehr verdichtet. Hamel verortet die Spannweite der russischen Kultur „zwischen einer beherzten Bodenhaftu­ng und einem beflügelte­n visionären Denken“. Sie eröffnet eine Geistesges­chichte zwischen der Mentalität der slawischen Stämme, „die an die Allbeseelt­heit der Natur glaubten, und der magischen Daseinsbew­ältigung der neuplatoni­schen Spätantike mit ihrem verfeinert­en pantheisti­schen Mystizismu­s“.

Beide Erbschafte­n, so Hamel, haben einen gemeinsame­n Nenner: „den Traum von der Einheit des Seins, von der Gemeinscha­ft der Seelen“. Das geflügelte Wort von der „russischen Seele“verliert in ihrem Festvortra­g seine klischiert­e Griffigkei­t. Er ist zugleich aber so gelehrt und inhaltsrei­ch, dass beim Zuhörer der Verlust des roten Fadens droht.

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FOTOS: HARALD RUPPERT Unbequem, aber fesselnd: Gabriel Prokofiev (links) und Detlef Mielke machen Musik auf Laptop und Cello.
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: Christina Hamel liefert einen inhaltlich sehr dichten Festvortra­g

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