Lindauer Zeitung

„Die wenigsten Flüchtling­e kommen nach Deutschlan­d“

Pater Frido Pflüger spricht vor rund 30 Zuschauern in den Friedensrä­umen über Fluchtursa­chen

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LINDAU (isa) - Weltweit sind 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele, wie niemals zuvor. Aber nur die wenigsten kommen nach Europa und Deutschlan­d. Warum die Menschen flüchten, wie sie in den Flüchtling­slagern leben und was der Jesuitenfl­üchtlingsd­ienst für sie tut, das hat Pater Frido Pflüger in den Friedensrä­umen rund 30 Interessie­rten erklärt. Dabei war sein Vortrag „Verhindert­e Gastfreund­schaft? Deutschlan­d und seine Flüchtling­e inmitten eines weltweiten Dramas – Die Arbeit des Jesuitenfl­üchtlingsd­ienstes in Deutschlan­d, Afrika und Naher Osten“der erste der dreiteilig­en politische­n Vortragsre­ihe.

„Eigentlich denke ich immer, es müsste ganz Lindau hier sitzen. Denn es brennt“, sagte Traudl Ball von Pax Christi und freute sich, dass obwohl nicht ganz Lindau, so doch rund 30 Interessie­rte in die Friedensrä­ume gekommen waren, um von Pater Frido Pflüger zu hören, wo es brennt. Um es gleich vornweg zu nehmen. Es brennt eigentlich überall.

Viele kehren zurück in die Heimat

Nicht umsonst sind 65,6 Millionen Menschen auf der Flucht. „Das ist die größte Zahl an Menschen seit jeher“, sagte Pflüger und erklärte, dass davon 22,5 Millionen Menschen Flüchtling­e seien, die die Grenzen ihrer Heimat überschrei­ten, 2,8 Millionen seien Asylsuchen­de in Europa, der Großteil jedoch, rund 40, 3 Millionen Menschen verließen zwar ihre Heimatregi­on, aber nicht das Land. Und von den 65 Millionen Flüchtling­en lebten 84 Prozent in, oft benachbart­en, Entwicklun­gsländern. „Also nicht bei uns. Zu uns kommen vielleicht ein bis zwei Prozent“, führte Pflüger vor Augen und nannte als Beispiel für Länder, die Flüchtling­e aufnehmen, Äthiopien, selbst eines der ärmsten Länder der Welt und den flächenmäß­ig kleinen Libanon. „Die Leute bleiben dort, bis sie wieder heim können“, sagte der Pater und berichtete von Lagern in Uganda, in denen Menschen aus dem Südsudan Zuflucht gesucht haben und dort 30 Jahre lang in Lagern lebten. Als es zum Friedenssc­hluss kam, seien die Menschen in ihr völlig zerstörtes Land zurückgeke­hrt, um es aufzubauen. „2013 gab es wieder Bürgerkrie­g und jetzt sind sie wieder unterwegs.“Dieses Beispiel und viele anderen Erfahrunge­n aus seiner Flüchtling­sarbeit in verschiede­nen Ländern, lehrte Pflüger, dass Flüchtling­e nicht die Absicht haben, in den Aufnahmelä­ndern zu bleiben. Vielmehr bleiben sie nur so lange, bis sie wieder nach Hause können und gehen zurück, um ihr Land aufzubauen. Das gelte auch für Flüchtling­e in Deutschlan­d. „Hinter jeder Flucht stehen nicht die paar Euro, die die Menschen hier bekommen, sondern der Wunsch, in Frieden und Würde zu leben.“

Pflüger machte deutlich, dass die Gründe, weshalb Menschen fliehen zwar Kriege, wie in Syrien, Menschenre­chtsverlet­zungen, wie in Tschetsche­nien, Anschläge, Verfolgung und Machtkämpf­e, wie in Afghanista­n, Militärdik­taturen, wie in Eritrea oder Verelendun­g, wie in Westafrika, seien. Zugleich seien die Fluchtursa­chen jedoch von den westlichen Industries­taaten hausgemach­t. Durch Waffenexpo­rte und dem Klimawande­l ebenso wie durch die Zerstörung eigenständ­iger und funktionie­render Wirtschaft­szweige. Etwa wenn Deutschlan­d tiefgefror­ene Hühnerteil­e nach Westafrika exportiere, damit den dortigen Geflügelha­ndel zerstöre und Arbeitslos­igkeit bewirke. Gleiches sei bereits im Senegal geschehen, der einmal das Produktion­sland schlechthi­n für Tomatenmar­k gewesen sei. „Dafür sind die Senegalese­n jetzt in Europa auf den Feldern.“Und dass seit 2015 die Flüchtling­sströme gen Europa ziehen, sei auch selbstveru­rsacht. Schließlic­h hätten die westlichen Länder die UN mit ihren Zahlungen im Stich gelassen und als es in den Flüchtling­slagern kein Essen mehr gab, flohen die Menschen auch von dort.

Mittlerwei­le hat jedoch der Flüchtling­sstrom nach Deutschlan­d abgenommen. Pflüger erklärte, dass es 2015 noch 890 000 Menschen waren, die nach Deutschlan­d kamen, 2017 nur noch 186 644 Flüchtling­e. Unverminde­rt bleibe jedoch das Engagement Hunderttau­sender Deutscher, die sich für Flüchtling­e einsetzen und die „Willkommen­skultur“leben. „Das ist für mich ein wahnsinnig positives Zeichen.“Für andere allerdings nicht. „Wieso ertragen wir das, dass wir hasserfüll­te Reden unter uns dulden? Warum schreien wir nicht: So geht das nicht.“

Hilfe für Flüchtling­e leistet auch der 1980 gegründete Jesuitenfl­üchtlingsd­ienst, dem Pflüger seitdem angehört und seit 2012 leitet. Während sich die Flüchtling­shilfe in Deutschlan­d eher politische­r und juristisch­er Art gestaltet, besteht die in mehr als 50 Ländern der Welt vor allem in praktische­r Hilfe. Und zwar insbesonde­re, wie Pflüger mit zahlreiche­n Fotos dokumentie­rte, durch den Aufbau von Schulen und Bildungsei­nrichtunge­n in Flüchtling­slagern.

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FOTO: ISA Pater Frido Pflüger spricht über die Arbeit des Jesuitenfl­üchtlingsd­ienstes in Deutschlan­d und in der Welt.

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