„Das Medium Film ist Kulturarbeit“
Vom großen Aufbruch der 1960er-Jahre, LZ-Serie, Teil zehn – Rudolf Wipperfürths Studio-Kino bot Lindau gut 20 Jahre Film-Kultur
LINDAU - Mit Franco Nero als „Django“, den bundesdeutschen Winnetou-Filmen oder auch dem „Alpenglühen in der Lederhose“versuchte die etablierte europäische Kino-Industrie einerseits gegen die wachsenden filmischen Marktanteile des Fernsehens anzukommen – von 1958 bis 1967 hatte bereits jedes dritte Filmtheater in Bayern geschlossen.
Andererseits symbolisierten Filme wie beispielsweise bereits im Jahr 1963 „Das Schweigen“des Schweden Ingmar Bergman, oder „Le petit soldat“des Franzosen JeanLuc Godard sowie „Otto e mezzo“(8 ½) des Italieners Federico Fellini und bald auch junge westdeutsche Regisseure wie beispielsweise 1966 Volker Schlöndorff mit „Der junge Törless“sowie Alexander Kluge mit „Abschied von gestern“und 1969 der aus Bad Wörishofen stammende Rainer Werner Fassbinder mit „Katzelmacher“und „Liebe ist kälter als der Tod“eine neue kritische Realitätstüchtigkeit bei den Inhalten, gepaart mit großer Experimentierfreude in der Filmästhetik.
Zu dieser Zeit war es der Lindauer Rudolf Wipperfürth (1937 – 1988), der es dem hiesigen Publikum lange vor jenem der anderen Städte am östlichen Bodensee ermöglichte, diesen filmischen Aufbruch auf heimischer Leinwand mitzuerleben. Seit 1966 organisierte „R.W.“ehrenamtlich jeweils Donnerstags mit den „Studio-Filmen in den RathausLichtspielen Lindau“in der Maximilianstraße, dem damals kleinsten Kino Westdeutschlands, den cineastischen Einblick aus der idyllischen Provinz in die vielfältigen Häutungen der Kulturarbeit Film. 1965 als „Filmring“des städtischen Volksbildungswerkes, heute VHS, gegründet, führte „Wippi“Lindaus Filmbegeisterte sowie etliche Interessierte aus den Nachbarstädten zu filmischen Höhen. Regisseurnamen wie Herbert
Achternbusch, Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders oder Margarethe von Trotha waren in Lindau bereits ein Begriff, während sie in westdeutschen Großstädten erst noch ein Publikum gewinnen mussten. Wipperfürth ermöglichte es auch, dass beispielsweise Fassbinder und Schlöndorff nach Lindau zu Besuch kamen.
Zu den bewährten Riten des „Studios“zählten im Anschluss an die Vorführungen die zahllosen Filmgespräche mit Schmalzbrot in der „Fischerin“, durchgeführt mit oder ohne die jeweiligen Filmschaffenden. Bei übergroßem Andrang wich man in den Nebensaal des „Sünfzen“aus. Hier konnte beispielsweise im Juni 1969 der Erstling „Neun Leben hat die Katze“der Regisseurin Ulla Stöckl samt Filmmusik des Lindauers Manfred Eicher intensiv besprochen werden. Stöckl war neben Wim
Wenders eine der ersten Absolventen der erst 1967 eröffneten Münchner Filmhochschule.
Wipperfürth präsentierte eine erstaunliche Breite an Filmschaffenden, unabhängig vom Mainstream aus Hollywood. Neben den neuen Italienern, den modernen Franzosen, Briten und Schweden wurden auch mutige Filme von beispielsweise Wolfgang Staudte aus der DDR oder sowjetische Produktionen gezeigt. Die Lindauer Aufführung von Fellinis „Stadt der Frauen“mit Marcello Mastroianni als „Snapovaz“veranlasste Lindaus Katholischen Frauenbund, öffentlich vor der Gefahr von „Sodom und Gomorra“im Städtchen zu warnen.
Was nicht synchronisiert war, hatte deutsche Untertitel. Ab Woodstock 1969 konnten Lindaus junge Musikfans nun im „Studio“ihre „Heroen“wie Jimi Hendrix, Bob Dylan, Ravi Shankar, The Cream, Emerson, Lake and Palmer mit deren Version
von „Pictures of an Exhibition“sehen und bereits 1974 den Reggae-Rebellenfilm „The Harder They Come“mit Jimmy Cliff. Am 10. Mai 1979 wurde dank Rudolf Wipperfürths herausragenden Kontakten in die Filmwelt Volker Schlöndorffs Verfilmung der „Blechtrommel“in Lindau mit welturaufgeführt.
Gehässig als „kleiner Finanzbeamter“bezeichnet
„RW“, von seinen kulturpolitischen Gegnern in der Stadt des öfteren gehässig als „kleiner Finanzbeamter“bezeichnet, war einer der kulturellen Motoren in der Stadt. So war er schon früh im damals noch anrüchigen Milieu des Jazz-Clubs ebenso zuhause wie er als Mitglied des Lindauer Forums 1966 vier Tage lang mithalf rund 850 Flugblätter vor Lindaus Parktheater gegen den rassistischen Film „Africa Addio“zu verteilen. 1968 wurde er zusammen mit Hermann Dorfmüller in den Vorstand der Lindauer Gesellschaft der Kunstfreunde gewählt und Redaktionsleiter von deren Informationsbulletin. Den Direktor des Lindauer Finanzamtes konnte er 1971 davon überzeugen, zusammen mit dem Lindauer Art Studio Plaas im Finanzamt am Seehafen 50 moderne Grafiken, Gouachen und Computerkunst öffentlich zu präsentieren. Die Solothurner Filmtage beriefen ihn zu einem ihrer Juroren.
1967 wegen deren Politik in der ersten „Großen Koalition“bereits wieder aus der SPD ausgetreten, verweigerte ihm die Lindauer Stadtratsmehrheit den Posten des neuen VHS-Leiters nach Umwandlung des städtischen Volksbildungswerkes in die Volkshochschule. Im zehnten Jahr der Studiofilme, mit bis zu 190 Filmbegeisterten pro Abend, nagte 1974 das finanzielle Defizit immer zermürbender auch an Studioleiter Wipperfürths privater Kasse. Der städtische Zuschuss wurde nicht erhöht. Der Förderverein „Interessengemeinschaft Film Lindau“erreichte kein ausreichend hohes Spendenaufkommen. Ende 1975 gab „Wippi“deshalb die Studio-Filme auf.
Zwar führte er ab 1977 zusammen mit dem städtischen Kulturamt noch die regional viel beachteten und speziell von einigen Lehrern geschätzten „Lindauer Filmwochen“zu verschiedenen Schwerpunktthemen durch, doch die früheren Energievorräte waren langsam verbraucht. Nach kurzer schwerer Krankheit starb Rudolf Wipperfürth am 1. April 1988. Lindau verlor einen seiner großen Cineasten und Kulturnetzwerker. Doch der Samen seiner qualitätsbewussten Filmbegeisterung blühte wieder auf, unter anderem über das vom ehemaligen Bogy-Schüler Eugen Detzel 1979 in Weingarten mitgegründete „LinseKino“sowie das 1993 eröffnete Bregenzer Filmforum im dortigen Metro-Kino.