Hilflos in der Richterrobe
Was kann Strafe bewirken, wenn ein desolates Leben längst Strafe genug ist?
Manchmal wird in Gerichtssälen nicht Recht gesprochen, sondern höchstens geflüstert. Weil es Dinge gibt, denen mit Paragraphen nicht beizukommen ist. So wie dem Werdegang der Angeklagten. Weil da ein Mensch von 21 Jahren nicht am Beginn seines Lebens steht, sondern bereits an dessen Ende gekratzt hat. So wie sie sich im Saal 1 des Amtsgerichts Lindau unablässig die Unterarme kratzt, wodurch die frischen Spuren ihrer verzweifelten Selbstverletzungen grell und blutig hervortreten.
Die Not dieses allein gelassenen Mädchens erfüllt den Raum. Bizarr wirkt das Festhalten der Justiz an ihren strengen Formalien und Verfahrensregeln, in denen Dummheiten üblicherweise Taten heißen und Menschen Angeklagte.
Gekrümmt von der Last ihrer eigenen Hilflosigkeit, sitzt die 21-jährige Frau ohne einen Verteidiger auf der Anklagebank, während sich der Staatsanwalt erhebt, um ihr die Geschehnisse einer kalten Dezembernacht vom Vorjahr vorzuhalten. Da hat die junge Frau mal wieder einen sitzen. Es ist nicht ihr erster Rausch, aber auch dieser ist wie fast alles Ausdruck eines desolaten Lebenswegs, der nicht aus geraden Linien, sondern Kurven und Kehren zu bestehen scheint. Eine Gruppe junger Frauen ist ebenfalls in der Kneipe, um sich einen schönen Abend zu machen. Die 21-Jährige fällt ihnen schon lange vor der eigentlichen Eskalation als aggressiv auf. Beleidigungen stößt sie den ganzen Abend ohne nachvollziehbare Gründe aus.
Als die jungen Partygänger vor die Tür verschwinden, folgt ihnen die Streitlustige. Es kommt zu noch mehr Beleidigungen. Eines der Mädels erregt besonders ihren Unwillen, sodass die verbalen Grenzüberschreitungen schließlich einseitig in Gewalt umschlagen. Das Ergebnis von Schubsen und Schlägen mit der Faust: Eines der Mädchen blutet aus der Nase. Dessen Freundin wird von der Angreiferin bedroht: „Du machst keine Anzeige, sonst wandere ich in den Knast! Ich bin auf Bewährung.“Schließlich endet das Gespräch mit einer Todesdrohung, sollte es jemand wagen, die Schlägerbraut anzuzeigen. Doch die bedroh- ten und verletzten Mädchen lassen sich nicht einschüchtern: Nachdem sich im Krankenhaus herausgestellt hat, dass die Nase der Geschlagenen nicht gebrochen ist, geht die Angegriffene mit ihren Freundinnen zur Polizei.
Schluchzende Angeklagte
Das gerichtliche Nachspiel ist Ausdruck maximaler Hilflosigkeit. Wie jemanden aburteilen, der mit 21 schon derart davon gezeichnet ist, sich im Leben selbst am meisten im Weg zu stehen? Die Verlegenheit der Richterin gipfelt im Satz an die verzweifelt schluchzende Angeklagte: „Sie sind eine junge Frau – das wird schon wieder gut.“Doch die Richterin scheint selbst nicht zu glauben, was sie da sagt.
Wiederholte Entgleisung
Als es um die Frage geht, wie die wiederholte Entgleisung des Mädchens zu bestrafen ist, gerät auch der Staatsanwalt ins Stocken, denn: Die Angeklagte ist derzeit wegen ihrer Selbstmordgedanken in der Psychiatrie untergebracht, wenn sie rauskommt, hat sie keine Wohnung. Ihr kleines Kind lebt bei ihrer Mutter, die vor ein paar Monaten weggezogen ist. Übrig ist sie, ganz allein und ohne Halt, selbst eine Art großes Kind, das jetzt ihrem kleinen Kind nachweint. Die ihren Verpflichtungen nicht nachkommt, ihrer Arbeit nur sporadisch nachgeht. Die ständig Mist baut.
Immer wieder bittet sie unter dem Schleier ihrer Tränen um Entschuldigung, winselt mehr als sie spricht. „Sie müssen Ihr Leben auf die Reihe kriegen“, sagt die Richterin. Sie brauche jemanden, der sich um sie kümmere. Sie solle jetzt am besten mal in der Psychiatrie bleiben, bis sie sich erholt habe. Und danach? Obwohl diese Frage mit aller Dringlichkeit den Sitzungssaal ausfüllt, wagt niemand, diesen Gedanken zu vertiefen. Noch so ein Dilemma: Weil die Angeklagte inzwischen 21 und damit volljährig ist, hat auch die Vertreterin der Jugendhilfe keine Möglichkeit mehr, der jungen Frau jemanden zur Seite zu stellen. Da nützt es auch nichts, dass sie vor Gericht von „erheblicher Reifeverzögerung spricht“. Vor dem Gesetz ist sie dennoch erwachsen. Basta.
Zurück in die Psychiatrie
Und weil das Protokoll einer Gerichtsverhandlung ein klares Ende verlangt, einen Beschluss, wird die inzwischen wimmernde Angeklagte zu 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Die junge Frau wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Als sie das Gerichtsgebäude verlässt, fällt sie in die Arme der Mutter ihres Ex-Freundes, die sie zurück in die Psychiatrie bringt, damit sich jemand um die unsichtbaren Wunden der jungen Mutter kümmert. Und um all die Verletzungen, die weit tiefer sitzen als die blutenden Schnitte in ihrem Unterarm.