Lindauer Zeitung

1000 Pflegekräf­te im Allgäu fehlen

Die ersten Einrichtun­gen müssen bereits mangels Personal schließen

- Von Anja Worschech

KEMPTEN (AZ) - Weil Pflegepers­onal fehlt, sind im Allgäu eine Sozialstat­ion in Immenstadt und ein Pflegeheim in Kempten geschlosse­n worden. Weitere werden noch folgen. Nach Schätzung von Professor Philipp Prestel von der Hochschule Kempten fehlen im Allgäu rund 1000 Pflegefach­kräfte. Zwar habe sich bei den Gehältern einiges getan, doch das alleine reiche nicht aus, um den Notstand zu beheben. Um Abhilfe zu schaffen, startet demnächst eine neue Initiative. Im Oktober beginnen 15 Auszubilde­nde aus Vietnam eine Ausbildung. Sie wurden von der Allgäu GmbH und der Kolping Akademie, die die Internatio­nale Berufsfach­schule für Pflege Allgäu betreibt, angeworben.

KEMPTEN - Ambulante Pflegedien­ste sind an der Kapazitäts­grenze angekommen, Kurzzeitpf­legeplätze sind Mangelware und stationäre Einrichtun­gen haben zwar freie Plätze, können aber keine Pflegebedü­rftigen aufnehmen, weil das Personal fehlt. Von dieser Notsituati­on ist auch das Allgäu betroffen. Erst kürzlich sind die Sozialstat­ion Immenstadt des Roten Kreuzes sowie ein Pflegeheim in Obergünzbu­rg geschlosse­n worden. Die stationäre Einrichtun­g des Seniorenhe­ims Margaretha- und Josephinen-Stift in Kempten schließt im März.

Nach Schätzunge­n von Philipp Prestel, Professor an der Fakultät für Gesundheit und Soziales der Hochschule Kempten, fehlen im Allgäu etwa 1000 Fachkräfte in der Pflege. Die Versorgung der Pflegebedü­rftigen sei schon bisher ohne den Einsatz von Angehörige­n nicht vorstellba­r. Etwa zwei Drittel der Pflegebedü­rftigen werden zu Hause betreut. „Ohne diese starke familiäre Säule würde das System sofort kollabiere­n“, sagt Prestel. Das gerade eingeführt­e zusätzlich­e Pflegegeld von 1000 Euro pro Jahr sei gut gemeint, aber viel wichtiger seien funktionie­rende Entlastung­sangebote. „Da hapert es auch im Allgäu und es gibt nur vereinzelt neue Initiative­n.“Verena Fedtke, Sprecherin der Allgäu Pflege mit Sitz in Sonthofen, sieht akuten Handlungsb­edarf: „Es ist bereits fünf nach zwölf.“

Die Leidtragen­den sind die Angestellt­en, die Pflegebedü­rftigen und ihre Angehörige­n. Im Falle des Kemptener Margaretha- und Josephinen-Stifts müssen 48 Senioren nun eine neue Unterkunft finden.

Gefangene im eigenen Haus

Aber auch Angehörige wie Ramona Ziegler leiden unter dem Pflegenots­tand. Ziegler findet keinen Betreuer, der sie einmal oder zweimal im Monat für ein paar Stunden bei der Pflege ihrer demenzkran­ken Mutter entlastet. Seit acht Monaten pflegt sie ihre Mutter zu Hause rund um die Uhr. „Ich komme mir vor wie eine Gefangene in meinem eigenen Haus.“In ein Pflegeheim würde die 57-Jährige ihre Mutter auf keinen Fall geben. Ziegler hat schlechte Erfahrunge­n gemacht, als sie ihre Mutter das vergangene Mal kurzzeitig in Pflege gab, um selbst in den Urlaub zu fahren. Die Pfleger fanden laut Ziegler keine Zeit, ihre Mutter zu waschen, Windeln zu wechseln und ihr ausreichen­d zu trinken zu geben. „Das ist Massenabfe­rtigung“, empört sich Ziegler.

Um den Mangel an Pflegern zu kompensier­en, werden vielerorts Fachkräfte aus dem Ausland angeworben. Ohne den Zuzug aus Osteuropa und Asien sei das Gesundheit­ssystem kaum noch aufrecht zu erhalten, sagt Prestel. „Jedenfalls nicht auf heutigem Niveau.“Als Ursache sieht er eine Reihe von Faktoren. Die hohe psychische und physische Arbeitsbel­astung, die vielen Zusatzdien­ste und die „überborden­de Dokumentat­ion“empfinden viele Mitarbeite­r als belastend. Prestel beobachtet daher auch im Allgäu, dass viele Pflegekräf­ten in die Industrie abwandern.

Nicht zuletzt führe aber auch der demografis­che Wandel zu einem Engpass. „Der Bedarf an Pflegekräf­ten ist höher, als bisher ausgebilde­t werden kann.“An einer Stellschra­ube wurde bereits gedreht. Seit vergangene­m Jahr hat sich bei den Gehältern für Pflegekräf­te durchaus etwas getan, sagt Prestel. In der Altenpfleg­e lägen die Einstiegsg­ehälter nun meist zwischen 2600 und 3000 Euro brutto und für erfahrene und fachlich spezialisi­erte Pflegekräf­te bei bis zu 4000 Euro und mehr. An dieser Stelle sei nun die Politik gefordert: „Die steigenden Personalko­sten müssen auch tatsächlic­h von Kranken- und Pflegekass­en anerkannt und von den Trägern der Pflegeeinr­ichtungen refinanzie­rt werden, sonst drohen wie in Kempten weitere Betriebssc­hließungen.“

Im Allgäu startet nun eine neue Initiative: Um den Nachwuchs zu fördern, arbeiten die Allgäu GmbH und die Kolping Akademie, die die Internatio­nale Berufsfach­schule für Pflege Allgäu betreibt, zusammen. Sie werben ausgebilde­te Pflegefach­kräfte aus dem Ausland an und bilden auch aus. „Die ersten 15 Azubis aus Vietnam starten im Oktober“, sagt Simone Zehnpfenni­g, Sprecherin der Allgäu GmbH. Aber noch viel wichtiger sei der Imagewande­l, damit der Job auch für Nachwuchs aus der Region attraktive­r werde. Verena Fedtke von der Allgäu Pflege fordert zudem mehr Akademiker in der Branche. „In der Pflege warten enorme Herausford­erungen.“

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FOTO: DPA Ohne Pflegekräf­te aus dem Ausland könnte vielerorts der Betrieb nicht mehr aufrechter­halten werden.

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