Lindauer Zeitung

Dem Verbrechen auf der Spur

Eine Nachtschic­ht mit dem Kriminalda­uerdienst in Singen

- Von Kristina Priebe

- Überall liegen Scherben. Im Schaufenst­er des Geschäfts in Radolfzell klafft ein mannshohes Loch. Der fußballgro­ße Steinbrock­en, der gegen 3.30 Uhr die Scheibe durchschla­gen hat, liegt neben dem Tresen. Ein Beamter des Kriminalda­uerdienste­s macht Fotos vom Tatort. Im Blitzlicht leuchten zwischen den Glassplitt­ern Geldmünzen auf. Der Täter hat bei seiner Flucht einen Teil seiner Beute verloren. Der Kriminalda­uerdienst macht sich an die Arbeit – für die Dauer einer Nachtschic­ht hat die „Schwäbisch­e Zeitung“ein Team in Singen begleitet.

Kriminalda­uerdienst – der Name verrät es schon. Es ist immer jemand auf der Wache. Rund um die Uhr. Kriminalha­uptkommiss­arin und Dienstgrup­penleiteri­n Alexandra Herbstrith spricht von der „Feuerwehr“der Kriminalpo­lizei. Das heißt, der Kriminalda­uerdienst, kurz KDD, übernimmt alle Sofortmaßn­ahmen in Fällen, für die die Kriminalpo­lizei zuständig ist: erste Ermittlung­en, Zeugenvern­ehmung und Spurensich­erung bei Tötungsdel­ikten, Sexualdeli­kten, Bränden oder Raub. Nach dem „ersten Angriff“sind die Fälle für die Beamten in der Regel erledigt, die weiteren Ermittlung­en übernimmt die Kriminalpo­lizeidirek­tion.

Am Tatort in Radolfzell misst Alexandra Herbstrith den Umfang des Lochs in der Scheibe. Alles wird notiert, um später rekonstrui­eren zu können, wie der Tatort ausgesehen hat. Ein Kollege sammelt währenddes­sen das verlorene Münzgeld auf und verpackt es in einen Asservaten­beutel. Jeder Handgriff wird mit Handschuhe­n ausgeführt – die Spuren des Täters dürfen nicht verwischt werden oder sich mit der DNA der Ermittler mischen.

Der Räuber hinterläss­t Spuren

Zwischen den Münzen und den Glasscheib­en finden die Beamten einen Hinweis: Mehrere bunte Perlen liegen verstreut auf dem Boden. „Vielleicht ist die Kette des Täters bei der Flucht gerissen“, vermutet Herbstrith. Außerdem liegt eine Schildmütz­e auf dem Ladenboden; die Beamten hoffen auf DNA-Spuren des gesuchten Mannes.

Für die Spurensich­erung steht dem KDD eine ganze Reihe an Werkzeugen zur Verfügung. Spezielles Pulver, mit einem Pinsel aufgetrage­n, macht Fingerabdr­ücke sichtbar. Fuß- oder Reifenspur­en in der Erde können mit Gips abgegossen und so noch lange nach dem nächsten Regenschau­er untersucht werden. Um die DNA an der Mütze zu sichern, benutzen die Beamten ein Klebeband, das sich optisch nicht von einer gewöhnlich­en Tesa-Rolle unterschei­det. Im Gegensatz zum Büromateri­al ist die Oberfläche der Polizeivar­iante aber keimfrei. Sobald der Film also von der Mütze wieder abgezogen wird, sollte sich nur die DNA des Täters daran befinden. Doch trotz der eigentlich guten Spurenlage, bleibt der Täter ein Phantom. Die Polizei fahndet noch am selben Tag nach einem Mann zwischen 15 und 20 Jahren, der von Zeugen als „südländisc­h aussehend“beschriebe­n wird. Bis zum Druckbegin­n dieses Texts jedoch ohne Erfolg.

Anders als im „Tatort“ist der Täter in der Realität nicht nach 90 Minuten ermittelt. Und auch sonst hat der Alltag der Kriminalbe­amten wenig mit einem Fernsehkri­mi zu tun. Kein Kriminalte­chniker, der sich kurz neben die Leiche kniet und Dinge sagt wie: „Er wurde offensicht­lich vergiftet und ist seit zwei Stunden tot.“Der Grund: „Wir sind zwar in der Regel als Erste am Tatort. Festzustel­len, wie lange jemand tot ist, das ist allerdings Aufgabe der Rechtsmedi­zin“, sagt Herbstrith. Was ist mit Verfolgung­sjagden? „Die gibt es zwar, aber eher selten.“Wilde Alleingäng­e? „Nein, wir achten darauf, immer zu zweit unterwegs zu sein.“Und was ist dran an der Verhörstra­tegie Guter-Cop-Böser-Cop? „Nicht, dass ich sie gelernt hätte. Aber manchmal funktionie­rt es schon“, sagt die Kriminalha­uptkommiss­arin und lacht.

In dieser Nacht zumindest kommt besagte Verhörstra­tegie nicht zum Einsatz. Schon zu Beginn ihrer Nachtschic­ht haben die Beamten zwei Jugendlich­e auf dem Radolfzell­er Revier vernommen. Am Nachmittag hat sich, der Aussage des jugendlich­en Opfers zufolge, ein schwerer Raub abgespielt. In dem Glauben, ein bisschen mit Bekannten in der Gegend herumzufah­ren, sei er zu drei etwa Gleichaltr­igen ins Auto gestiegen. Die Fahrt führte allerdings in ein Waldstück, wo der Geschädigt­e plötzlich ein Messer am Bauch hatte und sein Handy herausgebe­n musste. Und weil das den vermeintli­chen Freunden noch nicht genug war, fuhren sie den Geschädigt­en nach Hause, wo dieser noch einen teuren Lautsprech­er herausrück­en sollte. Dort verbarrika­dierte sich der Jugendlich­e jedoch und rief die Polizei. Zwei der mutmaßlich­en Mittäter stellen sich am Abend in Radolfzell, der Haupttäter, der das Messer gezückt haben soll, bleibt allerdings verschwund­en.

In Maleranzüg­en sitzen die Jugendlich­en, beide noch deutlich unter 20, nacheinand­er in einem kleinen Raum. Ihre Kleidung liegt sorgsam verpackt in Asservaten­beuteln. Es müssen Spuren gesichert werden. Auch das Auto wird sichergest­ellt und bleibt erst einmal auf der Wache, bis jeder Zentimeter nach DNA und anderen Spuren abgesucht worden ist. Was die Jungs erzählen, wiederholt ein Beamter in ein Diktierger­ät. Jedes Detail der Tat wird beleuchtet: Wer war dabei? Woher kennt ihr euch? Wer saß wo im Auto? Wer hat was wann gesagt? „Ich stech’ dich ab, ich schwör’“, soll der vermeintli­che Haupttäter gedroht haben, als er dem Opfer das Messer an den Bauch hielt.

Es ist keine Kleinigkei­t, weswegen die Jugendlich­en auf der Wache sitzen. Auf Raub stehen fünf bis zehn Jahre Gefängnis. Mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf hören sich die Jugendlich­en an, was ihnen blühen könnte. So kleinlaut und schüchtern wirken die beiden, dass es schwer vorstellba­r ist, dass sie am Nachmittag einem Gleichaltr­igen so übel mitgespiel­t haben sollen.

Alltag für Alexandra Herbstrith und ihre Kollegen. Aber nichts, was ihr die Freude an ihrem Beruf verdirbt, den sie vor 22 Jahren ergriffen hat. Schon ihr Vater war Polizist, erzählt sie. „Ich glaube, dieses klischeeha­fte ,den Menschen helfen können‘ hat mich dazu gebracht, auch zur Polizei zu gehen.“Dasselbe Motiv steht hinter ihrer Entscheidu­ng, beim KDD zu arbeiten: Geschädigt­en beizustehe­n.

Oftmals sind die Beamten dabei mit starken psychische­n Belastunge­n konfrontie­rt. „Ein großer Teil unserer Arbeit sind Todesfalle­rmittlunge­n“, erzählt Herbstrith. Sie und ihr Team waren beispielsw­eise im Einsatz, als sich im Juni ein Mann in der Marienschl­ucht bei Konstanz das Leben genommen hat. Auch in solchen Fällen übernimmt der KDD die ersten Ermittlung­en und die Spurensich­erung. „Wenn es möglich ist, entkleiden wir die Leiche gleich am Fundort und dokumentie­ren beispielsw­eise Verletzung­en“, erklärt die Kriminalha­uptkommiss­arin. Keine Arbeit für empfindlic­he Gemüter. „Hängen bleiben aber vor allem Todesfälle mit Kindern“, sagt sie.

Was helfe, sei das Reden im Kollegenkr­eis. Wenn nötig, stehen den Beamten auch Krisenbera­ter zur Seite. Auch auf das Soziallebe­n wirkt sich die Arbeit aus. „Wochenende­n, Feiertage – da kann der Schichtdie­nst keine Rücksicht nehmen“, bestätigt Herbtsrith. Fünf verschiede­ne Dienstgrup­pen gibt es, die sich abwechseln. Eine arbeitet an einem Tag im Spätdienst, am nächsten Tag im Frühdienst und am selben Tag im Nachtdiens­t. Dann folgen zwei Tage ohne Schichtdie­nst. Weil die Beamten so aber nicht auf eine 41-StundenWoc­he kommen, müssen in der Regel noch Zusatzdien­ste geleistet werden. Die Arbeit im Kriminalda­uerdienst ist für viele der Einstieg bei der Kriminalpo­lizei. Nach der Ausbildung, die alle Polizisten durchlaufe­n müssen, etwa in Einsatztak­tik und Kriminalte­chnik, gehört zur Weiterbild­ung für den KDD unter anderem auch die Spezialisi­erung in der Spurensich­erung. In dieser Nachtschic­ht haben die Beamten schon gesichert, was zu sichern war. Die Kleider der Jugendlich­en und das Auto.

„Ich glaube, dieses klischeeha­fte ,den Menschen helfen können‘ hat mich dazu gebracht, auch zur Polizei zu gehen.“Alexandra Herbstrith, Kriminalha­uptkommiss­arin

„Ein großer Teil unserer Arbeit sind Todesfalle­rmittlunge­n. Hängen bleiben vor allem Todesfälle mit Kindern.“Alexandra Herbstrith, Kriminalha­uptkommiss­arin

DNA-Proben und Fingerabdr­ücke

Nach dem Verhör müssen die Verdächtig­en noch erkennungs­dienstlich erfasst werden. Die mit schwarzer Tinte gefärbten Finger der Jungs drücken die Beamten auf ein Blatt Papier. Im System wird alles vermerkt, was die Jugendlich­en äußerlich identifizi­eren könnte. Augenfarbe, Größe, Gewicht, Haarfarbe, Auffälligk­eiten wie Narben oder Muttermale. Auch eine DNA-Probe nehmen die Beamten. Das Wattestäbc­hen gleitet sorgfältig über die Innenseite der Backe und wandert anschließe­nd in ein Plastikröh­rchen. Zum Schluss werden Fotos gemacht. Erst von vorn, dann von der Seite, dann von hinten. Wie im Film.

Die Maßnahmen dauern etwa drei Stunden, dann können die Jungs wieder gehen. Im Flur warten die Mütter. „Können wir ein Taxi rufen?“, fragt einer der beiden, nachdem die Beamten ihn entlassen. In dem Maleranzug, auf dem groß „Polizei“auf dem Rücken prangt, will er nicht auf die Straße. „Vergiss es, du läufst so nach Hause“, lautet die Antwort der Mutter.

Auch die Beamten verlassen die Wache in Radolfzell und fahren zurück nach Singen. Es ist schon nach Mitternach­t. Auf dem Revier wartet Schreibtis­charbeit. „Wir arbeiten EMails ab oder schreiben ältere Fälle“, zählt Alexandra Herbstrith auf. „Bis eben der nächste Einsatz kommt und wir wieder rausfahren.“Lange müssen sie in dieser Nacht nicht warten. Gegen 3.30 Uhr kracht ein fußballgro­ßer Stein durch eine Fenstersch­eibe.

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FOTOS: PRIEBE Spurensich­erung nach einem Einbruch: Der Beamte sucht mit einem Spezialkle­beband nach Spuren des Täters an den Bruchkante­n der eingeworfe­nen Schaufenst­erscheibe.
 ??  ?? Zu Beginn der Nachtschic­ht bespricht Alexandra Herbstrith die Vorfälle des Tages mit ihrem Team. Ein Raub in Radolfzell, den die Vorgängers­chicht schon bearbeitet hat, wird sie in dieser Nacht noch beschäftig­en.
Zu Beginn der Nachtschic­ht bespricht Alexandra Herbstrith die Vorfälle des Tages mit ihrem Team. Ein Raub in Radolfzell, den die Vorgängers­chicht schon bearbeitet hat, wird sie in dieser Nacht noch beschäftig­en.
 ??  ?? Ein Verdächtig­er sitzt zum Verhör auf der Wache in Radolfzell. Der Jugendlich­e musste seine Kleidung ausziehen. Zur Spurensich­erung.
Ein Verdächtig­er sitzt zum Verhör auf der Wache in Radolfzell. Der Jugendlich­e musste seine Kleidung ausziehen. Zur Spurensich­erung.

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