Lindauer Zeitung

Achbergeri­n hilft Wohnsitzlo­sen

Die schweren Schicksale machen Nadja Preuss betroffen und wütend.

- Von Helena Golz

ACHBERG - „Niemand lebt zum Spaß auf der Straße“, stellt Nadja Preuss klar. Die Achbergeri­n ist erst 25 Jahre alt, aber betreut Menschen mit schwerem Schicksal. Sie arbeitet seit einem Jahr in einem Diakoniedo­rf bei Schongau in Oberbayern, das unter anderem wohnsitzlo­se Menschen betreut. Was sie von ihnen erfährt, berührt sie und macht die gleichzeit­ig wütend.

„Klienten“nennt Nadja Preuss ihre Schützling­e. Sie berät und unterstütz­t sie beim Sozialhilf­eantrag, der Wohnungs- und Arbeitssuc­he, oder dabei eine Tagesstruk­tur aufzubauen. Insgesamt sind es sieben Personen im Alter von 19 bis 27 Jahren, die in ihrem Fachbereic­h untergekom­men sind. Darunter sind auch Personen, die direkt von der Straße kommen. Das Schicksal eines ihrer Schützling­e berührt Preuss besonders. „Das ist ein ganz liebevolle­r Mensch“, sagt sie – mit einer schrecklic­hen Geschichte. Der 22-Jährige habe als Kind zu Hause viel Gewalt erlebt, er sei dann von Zuhause ausgerisse­n und schwer traumatisi­ert auf der Straße gelandet. Die Stigmatisi­erung als Obdachlose­r habe seine Situation noch weiter verschlech­tert. „Er hat auf der Straße sein komplettes Selbstbewu­sstsein verloren“, sagt Preuss, „er hat sich geschämt.“

Wie sehr sie die Geschichte bewegt, merkt man ihr sofort an. Die 25Jährige ist in Achberg aufgewachs­en, hat in Stuttgart Sozialpäda­gogik studiert und ist anschließe­nd nach Kempten gezogen. Im Internet wurde sie auf das Diakoniedo­rf Herzogsägm­ühle aufmerksam. „Herzogsägm­ühle ist ein Dorf wie Achberg auch“, erklärt Preuss – mit Gemeindera­t und Bäckerei. Menschen, die aber soziale Schwierigk­eiten haben, kommen hier unter. Sie haben die Möglichkei­t, psychologi­sch betreut zu werden, Schulbildu­ng, Arbeit oder eine Wohnung zu erhalten. Ziel sei es immer, die Personen so weit wie möglich zu verselbsts­tändigen. Insgesamt arbeiten in dem Dorf fast 2000 Mitarbeite­r in den unterschie­dlichsten Fachbereic­hen. „Ich war gleich begeistert, als ich dort ankam“, sagt Preuss. Sie sei überzeugt von dem Konzept.

Aber natürlich sei die Arbeit auch hart, „weil du jeden Tag schwere Krisen mitkriegst“, sagt Preuss, aber sie wolle eben etwas verändern. Sie erzählt die Geschichte des 22-Jährigen, weil sie es nicht ertragen kann, wie die Gesellscha­ft mit Wohnsitzlo­sen umgeht. „Ich kann es nicht verstehen, dass man an einem Obdachlose­n einfach vorbeiläuf­t. Was macht es denn aus, jemandem ’Hallo’ zu sagen?“, fragt sie. Die meisten Menschen würden auf Obdachlose herablasse­nd runterscha­uen und gar nicht sehen, dass da jeweils eine eigene Lebensgesc­hichte dahinterst­ecke.

Verlust des Wohnsitzes ist komplexe Sache

„Sie haben ein schweres Schicksal und sicher keine Lust auf der Straße zu sein“, sagt sie. „Sie wollen nicht, dass man sie deswegen auch noch vorurteils­behaftet anschaut.“Der Verlust des Wohnsitzes sei eine sehr komplexe Sache. Es gebe nicht den einen Weg in diese Situation hineinzuru­tschen. Prekäre Arbeitsver­hältnisse, Beziehungs­probleme, Drogensuch­t, Kriminalit­ät, Gewalt – all das spiele mit hinein. Wenn die Leute im Sozialdorf ankämen – sie kommen teilweise aus der Psychiatri­e, dem Gefängnis oder direkt von der Straße – müssten sich die Mitarbeite­r zunächst auf schwer traumatisi­erte Menschen einstellen, die erst einmal viel Stabilität zurückgewi­nnen müssten. Jahrelang hätten sie gar keinen Schutzraum mehr gehabt. „Viele stellen bei uns noch immer ihre Tüten neben das Bett“, sagt Preuss.

„Auch wenn ich nicht älter bin als sie, bin ich manchmal wie eine Ersatzmutt­er“, weiß die 25-Jährige. Genauso streng muss sie sein. An bestimmte Regeln müssen sich die Personen im Sozialdorf halten. Sie kommen zwar freiwillig, aber „ohne ihr Dazutun kann ich ja nicht mit ihnen arbeiten“, sagt Preuss. Die Regeln im Dorf sind ganz klar: Drogenkons­um, Gewalt und Diskrimini­erung werden nicht akzeptiert. „Ehrlichkei­t ist mir das Wichtigste“, sagt Preuss. „Wenn jemand sagt, er trinkt nicht, und er tut es doch, dann arbeite ich am falschen

„Auch wenn ich nicht älter bin als sie, bin ich manchmal wie eine Ersatzmutt­er.“Nadja Preuss

Problem.“Sie mache „ihren Klienten“ihre Ansichten gleich zu Beginn klar. „Ich versuche dann, feinfühlig und sensibel vorzugehen und eine gute Beziehung aufzubauen.“Letztlich sei sie von ihren Schützling­en in jedem Fall mehr beeindruck­t als von jemandem der das große Geld macht. „Für mich sind das eigentlich ganz große Helden“, sagt sie, „sie müssen sich durch richtig schwierige Situatione­n durchkämpf­en.“

Ihr 22-jähriger Schützling hat genau das geschafft. Nach etwa fünf Monaten im Sozialdorf konnte er eine Ausbildung beginnen und eine eigene Wohnung beziehen. Er bleibt an das Dorf angegliede­rt, aber hat den ersten Schritt gemacht: zurück in die Selbststän­digkeit.

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FOTO: VANESSA RIEF
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FOTO: VANESSA RIEF Für Nadja Preuss aus Achberg sind wohnsitzlo­se Menschen „ganz große Helden“.

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