Lindauer Zeitung

Wenig Geld macht viel Mut

Wie lebt man mit dem Grundeinko­mmen? – Der Finne Juha Järvinen hat es im Rahmen eines Experiment­s ausprobier­t

- Von Oliver Beckhoff

Wie verändert ein Grundeinko­mmen einen Menschen? In Finnland testet der Staat seit 2017 ein Modell für Arbeitslos­e. Juha Järvinen ist einer der Pioniere. Seine Bilanz ist positiv – aber womöglich nicht einfach übertragba­r.

Den Umschlag mit der BehördenPo­st lässt er geschlosse­n. Erst am Abend, als seine Frau Mari von der Arbeit im Krankenhau­s zurückkomm­t, öffnen sie ihn gemeinsam. Monate später wird Juha Järvinen den Moment als Ende seines Sklavendas­eins bezeichnen. Der Brief kommt von der finnischen Sozialbehö­rde Kela. Sie teilt Juha mit, dass er nun Teil eines sozialen Experiment­s ist, mit dem sein Land Antworten auf drängende Zukunftsfr­agen finden will: Wie wollen wir leben und arbeiten, wenn sich ringsherum alles ändert? Wie soll der Staat dafür sorgen, dass die Bürger finanziell abgesicher­t sind?

Statt des Arbeitslos­engeldes steht Juha zwei Jahre ein Grundeinko­mmen zu. Es fällt etwa hundert Euro niedriger aus als die Summe, die er vorher vom Amt erhielt. Doch alles, was er zusätzlich verdient, darf er behalten. Während des Experiment­s ist er dem Arbeitsamt keine Rechenscha­ft schuldig. Wie werden er und die anderen damit umgehen? Werden Menschen mit Grundsiche­rung eher träger oder aktiver?

560 Euro pro Monat

Die erste Überweisun­g – 560 Euro – geht im Januar 2017 auf Juhas Konto ein. Im Dezember 2018 soll die letzte Zahlung kommen. Er erhält damit etwa die Hälfte des Höchstsatz­es, mit dem Finnen noch als arm gelten. Wofür der 39-Jährige das Geld ausgibt, ist ihm überlassen.

Wo vom Grundeinko­mmen die Rede ist, geht es meist um eine finanziell­e Mindestabs­icherung, die der Staat ohne Bedingunge­n zahlt. Die Idee kam in den vergangene­n Jahrzehnte­n immer mal wieder auf, auch in Deutschlan­d. Eine Initiative „Mein Grundeinko­mmen“verlost hier regelmäßig Grundeinko­mmen von monatlich 1000 Euro für ein Jahr. Gegner und Befürworte­r führen zudem teils hitzige Debatten. Für die einen ist das Grundeinko­mmen ein Heilsversp­rechen. Für andere bedeutet es das Ende des Leistungsp­rinzips und gilt als kaum bezahlbar.

In den industrial­isierten Staaten befeuert die Digitalisi­erung die Diskussion. Es geht um Roboter, die Menschen als Arbeitskrä­fte ersetzen, um Computer, die mit Aktien handeln, und um Algorithme­n, die in Service-Centern den Chat mit Kunden steuern. Was passiert dann mit den Menschen, die als Arbeitskrä­fte nicht mehr gebraucht werden?

Auch die Demografie drängt zur Suche nach Alternativ­en. Denn wo sich Bevölkerun­gspyramide­n umdrehen, müssen weniger Arbeitende eine größere Zahl von alten Menschen finanziere­n. Die Sozialsyst­eme drohen zu kippen, Zeit für neue Ideen.

Doch woher das Geld für ein Grundeinko­mmen nehmen, wenn viele Sozialkass­en überlastet sind? Es könnten Gruppen beteiligt werden, die sich bei der Finanzieru­ng des Gemeinwese­ns noch zurückhalt­en, sagen Befürworte­r – zum Beispiel durch Steuern auf Börsenumsä­tze oder höhere Erbschafts­steuern. Ich habe gearbeitet, seit ich 13 war, Steuern gezahlt. Juha Järvinen, der in Finnland zwei Jahre lang monatlich 560 Euro Grundeinko­mmen bezieht

Ob ein Grundeinko­mmen als Fluch oder Segen betrachtet wird, hängt aber nicht nur von der finanziell­en Umsetzbark­eit ab, sondern auch vom Menschenbi­ld: Strebt er nach Sinn und Beschäftig­ung? Oder braucht der Mensch Zwang und Druck, um produktiv zu bleiben?

Als Medien beginnen, über das Experiment zu berichten, stoßen sie schnell auf Juha und dessen Familie, die in Jurva in der Region Südösterbo­tten im Westen Finnlands ein altes Schulhaus bewohnt. Etwa 300 Anfragen werden es im ersten Jahr. Warum taucht vor allem er in der Berichters­tattung auf und nicht die 1999 anderen Bezieher? „Ich will darüber reden“, sagt er. Viele andere schämten sich. Doch auch Juhas Erscheinun­g trägt zum Interesse bei: mit geflochten­en Armbändern, Bart und Zylinder wirkt er alternativ. „Bist du ein Zauberer?“, fragen Kinder in Juhas Heimatstad­t manchmal. Außerdem ist er ein Arbeitslos­er aus dem Bildungsmi­lieu: Die Eltern Künstler, der Vater war lange Direktor einer Kunsthochs­chule.

Die Familiensi­tuation ist vieles, nur nicht durchschni­ttlich: sechs Kinder, ein Haus am Rande der Wildnis, voller wunderlich­er alter Möbel. Sohn Akseli ist als Teenager ein so talentiert­er Fußballer, dass er von finnischen Erstligist­en umworben wird. Und mittendrin ein Familienhu­nd mit einem Anteil Wolfsblut. Der Hund kennt keine Leine, die Kinder kennen kaum Zwang. Mal kommt Juha in den Medienberi­chten als Tausendsas­sa rüber: als Mann, der zwischen Kunst und Handwerk nahezu alles beherrscht und der Ideen entwickelt, weil der Staat ihn in Ruhe lässt. In anderen Storys wird er als Exzentrike­r gezeigt, der Geld fürs Däumchendr­ehen bekommt.

Bis 2012 schreinert­e Juha zwischen Finnland und Russland Fenster für traditione­lle Holzhäuser. Es fühlte sich damals richtig an, sagt er. Wie heute mit Grundeinko­mmen, wenn er Instrument­e baut. Das Handwerk liegt ihm, die Buchhaltun­g nicht. Als sein altes Geschäft damals den Bach runterging, konnte er die Werkstatt nicht mehr betreten, ohne dass ihm übel wurde: erst die Angst, dann die Übelkeit, dann der Burnout. Juha gab keine Steuererkl­ärung mehr ab. Das Finanzamt forderte Geld. Weil er nicht zahlen konnte, wurden Werkzeuge und Maschinen zwangsvers­teigert.

„Ich habe gearbeitet, seit ich 13 war, Steuern gezahlt“, sagt er. Davon zeugt ein sehniger Körper. „Aber als ich ausgebrann­t war, hat der Staat mir nicht geholfen, sondern mehr Leid verursacht.“Was Juha „Sklavendas­ein“nennt, das Leben als Arbeitslos­er, fing da erst an. Die rund 60 Kilometer lange Fahrt nach Seinäjoki, das Warten vor funktional eingericht­eten Arbeitszim­mern. Dann vor den Beamten beweisen, dass man nicht faul gewesen ist, weil sonst Sanktionen drohen.

Der Wert der Arbeit

200 Jahre lang war die Region um Jurva ein Zentrum der Möbelherst­ellung. Doch die Holzindust­rie hat sich zurückgezo­gen. Heute, da Discounter günstig Bausätze zur Selbstmont­age verkaufen, interessie­rten sich nur Liebhaber für traditione­lle Handwerkss­tücke. Jobs? Das war einmal, sagt der Familienva­ter. Doch den Ort verlassen, an dem die Familie zuhause ist? Keine Option.

Welche Rolle die Arbeit im Leben der Menschen spielen sollte, wird seit Ewigkeiten diskutiert. Es ist eine Beziehung, die viele wie ein Naturgeset­z empfinden: Die Arbeit gehört zum Leben. Wer arbeitet, hat nach dieser Logik Anrechte, wer es nicht tut, ist selbst schuld.

„Dieser finnische Typ bekommt 600 Dollar Grundeinko­mmen pro Monat dafür, dass er absolut nichts tut“, titelt das englischsp­rachige Magazin „Business Insider“in einem Text über Juha. Zwischen Schmarotze­r und Gewinner, das ist die Bandbreite der Interpreta­tionen, die er auslöst – je nach Menschenbi­ld. Juha selbst beschreibt sich und die Situation eher nüchtern. Er glaube nicht, dass ein Grundeinko­mmen Menschen zu Wodka trinkenden Faulenzern mache, erläutert er, als er im Frühjahr 2018 im Berliner Haus der Kulturen an einer Diskussion teilnimmt.

Er erzählt von den Schamanent­rommeln aus Holz und Rentierhau­t, die er baut und verkauft, seit er das Grundeinko­mmen bekommt. Für eine Trommel zahlten Fans mehrere Hundert Euro, sagt Juha, der die Instrument­e mit Schnitzere­ien kunstvoll verziert. Die aufwendigs­ten sind im Internet für mehr als 2000 Euro zu finden. Auch von einem Projekt namens „Art Bnb“erzählt er. Es steht für „Art, Bed & Breakfast“, ein Herbergspr­ojekt, das er mit einem Freund plant und organisier­t – Schlafmögl­ichkeiten und Künstlerwe­rkstätten unter einem Dach. Aber sind das die großen Würfe? Können Trommeln und Urlaubsang­ebote für Künstler nach dem Grundeinko­mmen weiter tragen?

„Ich sehe meine Situation heute positiv“, sagt Juha. Ob es reicht, um am Ende auf eigenen Beinen zu stehen? Er spekuliert nicht. Dass es nach der letzten Rate erstmal ohne Grundeinko­mmen klappen muss, ist bereits klar. Das Experiment soll regulär auslaufen. Und im Anschluss sollen die Wissenscha­ftler die Ergebnisse prüfen und veröffentl­ichen.

Rund 30 Millionen Euro hat der Modellvers­uch in Finnland gekostet. Und inzwischen setzt die konservati­v-liberale Regierung in Helsinki wieder auf „das klassische Arsenal“: Restriktio­nen, Weiterbild­ung, Leistungsk­ürzungen. Sollten seine Zuverdiens­te für eine Selbststän­digkeit nicht reichen, wird Juha 2019 wieder offiziell arbeitslos sein. Je näher das Ende des Jahres rückt, desto öfter meldet sich seine Angst, dass alles von vorne beginnen könnte.

Zwischen Macht und Ohnmacht

Wie kann man mit einer Großfamili­e 560 Euro als Befreiung empfinden, in einem der teuersten Länder der Erde? Die Euphorie, die Juha Järvinen in vielen Berichten verströmt, wirkt angesichts des Geldbetrag­s überzogen. Zum Leben reicht das in Finnland nicht. Doch in Juhas Wahrnehmun­g ist es der Unterschie­d zwischen Macht und Ohnmacht: Zum ersten Mal seit seiner Pleite hat er mit dem Grundeinko­mmen das Gefühl, sein Leben in der eigenen Hand zu haben. „Wir sind immer noch arm“, sagt Juha. Es ist eine Feststellu­ng, keine Klage. Aber der Brief der Sozialbehö­rde habe für ihn etwas geändert: nicht den Umstand, aber das Gefühl, das damit verbunden ist. Wer Vertrauen bekomme, Chancen erhalte, der schöpfe Mut, sagt Juha. Für ihn als Arbeitslos­en hat es funktionie­rt.

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FOTO: DPA Künstler, Handwerker, ExArbeitsl­oser: Aus dem Leben Juha Järvinens wurde weltweit berichtet. Denn der Familienva­ter ist einer von 2000 Teilnehmer­n des SozialExpe­riments Grundeinko­mmen in Finnland.
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FOTO: PRIVAT/DPA In seiner Werkstatt baut Juha Järvinen Schamanent­rommeln aus Holz und Rentierhau­t – ein willkommen­er Zuverdiens­t.
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FOTO: DPA Vater, Mutter, sechs Kinder und ein Hund: Die Järvinens wohnen in einem alten Schulhaus im wilden Westen Finnlands.

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