Lindauer Zeitung

Eine Stadt wacht auf

Mit einem Open-Air-Konzert vor Zehntausen­den Besuchern stemmt sich Chemnitz gegen die braune Gesinnung

- Von Dirk Grupe

CHEMNITZ - Es ist wohl zwangsläuf­ig ein bewegender Moment, wenn Zehntausen­den Menschen keine Silbe über die Lippe kommt. Wenn eine so gewaltige Masse schweigt, dass allein das Klingeln einer Straßenbah­n in weiter Ferne die Stille durchbrich­t. Die Menschen auf dem Platz neben der Johanniski­rche in Chemnitz halten inne für Daniel H., der am Sonntag vor einer Woche erstochen wurde. Dessen Tod in der Stadt zu Jagdszenen gegen Migranten, Flüchtling­e und Journalist­en geführt hat. Der Menschen auf die Straße gebracht hat, die Hitlergruß und Hassparole­n ihr eigen nennen. Der Bilder produziert hat von einem hässlichen Deutschlan­d, die um die Welt gingen. Dieser Montag soll der Wendepunkt sein, von diesem Tag an wollen jene, die für Demokratie und Anstand stehen, die Stadt zurückerob­ern. Deshalb ist alles, was nach der Schweigemi­nute folgt: Laut. Und deutlich.

„Ich sehe es!“, ruft eine der Organisato­rinnen von der Bühne. „Ihr seht es! Und alle können es sehen – wir sind mehr!!!“Jubel. Schreien. Applaus. „Wir sind alle verschiede­n, wir denken alle anders. Und das ist gut“, fährt sie fort. „Nur in einer Sache sind wir gleich: Wir geben keinen Platz für Rassismus – wir sind mehr!!!“Aus der Menge schallt es zurück: „Nazis raus, Nazis raus ...“Chemnitz steht Kopf, Chemnitz rührt sich. Die Stadt gibt sich eine Vitaminspr­itze, die sie dringend nötig hatte.

#wirsindmeh­r lautet das Motto an diesem womöglich denkwürdig­en Tag. Mehr. Mehr als jene Krakeeler und Aufrührer, als jener Mob, der seit Sonntag die ganze Stadt in eine Art Beugehaft genommen hat. Leute, die die Deutungsho­heit nicht nur über den tragischen Tod des 35-jährigen Deutsch-Kubaners für sich beanspruch­en, sondern auch über die Flüchtling­spolitik der Bundesregi­erung und über unseren Umgang mit Fremden und Andersdenk­enden. Ja, über unser Verhältnis zur Demokratie und den Zustand unseres Landes. Richten sich hierzuland­e die bangen Blicke nach Osten, wird anderswo schon die gesamtdeut­sche Frage gestellt. „Die ostdeutsch­e Stadt Chemnitz hat tiefe Bruchlinie­n im Land offenbart“, heißt es im amerikanis­chen Nachrichte­nsender CNN. Und die „New York Times“schreibt von einem „Schock für das System“, Chemnitz sei ein „Test für Deutschlan­ds Nachkriegs­demokratie“.

Nimmt man die vergangene Woche zum Maßstab, war das Testergebn­is mau. Während sich Rechte und Neonazis in Rekordzeit zu Märschen organisier­t hatten (Sachsens CDU-Ministerpr­äsident Michael Kretschmer meinte am Sonntag bei „Anne Will“etwas unbeholfen: „Es ist eine Frage, wie dieses Internet funktionie­rt“), blieb es um die vorgeblich­e Mehrheit lange still. Erst am Wochenende kam es zu nennenswer­ten Kundgebung­en des Bündnisses „Herz statt Hetze“, auch die evangelisc­he Kirche hatte zu einer Veranstalt­ung eingeladen. Jene Mehrheit, die sich auch in Umfragen und Wahlergebn­issen spiegelt, die zu Rechtsstaa­t, Toleranz und Weltoffenh­eit steht, war mit 3000 Teilnehmer­n trotzdem in der Minderheit. Die Hetze gegen Herz konnte dagegen 8000 Sympathisa­nten mobilisier­en. An diesem Montag jedoch ist alles anders.

Wer Chemnitz bisher nur aus dem Fernsehen kannte, von den erschrecke­nden Bildern der jüngsten Tage, reibt sich ohnehin verwundert die Augen. Schon am Tage wirkt die Stadt auf den ersten Blick wie jede andere Großstadt im Land auch. Das Straßenbil­d prägen viele junge Leute verschiede­nster Herkunft und aller Hautfarben. Die Dönerläden sind gut frequentie­rt, am Mittag speisen hier Bankangest­ellte neben Studenten. Nun geht es darum, dass sie auch ihre Stimme erheben.

Bei einer Pressekonf­erenz in der Stadthalle vis-à-vis der Karl-MarxBüste, dem Wahrzeiche­n der Stadt, einem 40 Tonnen schweren Kopf aus ukrainisch­em Granit, stimmen die Musiker am Nachmittag auf die Veranstalt­ung ein. „Es geht hier nicht um links gegen rechts“, sagt Campino von den Toten Hosen. „Es geht darum, dass alle, die Anstand haben, gegen den Mob aufstehen.“Felix Brummer von Kraftklub aus Chemnitz, der die Musikerkol­legen zusammenge­bracht hatte, bringt es auf den Punkt: „Ein Konzert kann nicht die Welt retten oder alle Probleme lösen“, sagt der Musiker. Aber: „Manchmal ist es wichtig, dass man sich nicht alleine fühlt.“Alleine gelassen hatten sich in den vergangene­n Tagen viele Chemnitzer gefühlt. Alleine gelassen mit den rechten Demonstran­ten und alleine gelassen mit der grausamen Tat im Herzen der Stadt.

Blumen und Kerzen am Tatort

Der Festivalpl­atz ist nur wenige Minuten entfernt von jenem Ort, an dem das Drama begann, das Drama um Daniel H. Am 26. August 2018 kommt es an der vierspurig­en Brückenstr­aße im Zentrum gegen drei Uhr nachts aus noch unbekannte­n Gründen zu einem blutigen Konflikt. Fest steht: Der Iraker Yousif A. und der Syrer Alaa S. werden verdächtig­t, den 35-Jährigen erstochen zu haben. Nun steht am Tatort ein braunes Holzkreuz, eingebette­t in Hunderte Blumen und rote Grabkerzen. Niedergele­gt von trauernden Bürgern, gleicherma­ßen von Deutschen wie von Migranten, die auch an diesem Montagmitt­ag an der Gedenkstel­le stehen bleiben und kurz die Blicke senken.

Als rechter Märtyrer taugt Daniel H. , der zwischen den Blumen von einem Foto mit Trauerband lächelt, eigentlich nicht. In Medien beschreibe­n ihn Freunde als gutmütig, politisch eher links, auf Facebook soll er der Gruppe „Kein Bock auf Nazis“gefolgt sein. Und trotzdem wird er von den Nazis instrument­alisiert und zur Symbolfigu­r stilisiert, in seinem Namen zünden sie Böller und Rauchgrana­ten, sie schaffen eine Pogromstim­mung und skandieren: „Unsere Stadt – unsere Regeln“und: „Wir sind das Volk.“

Seither steht nicht nur das „System unter Schock“, sondern auch die Bürger Chemnitz’, die an ihrem Bild in der Welt verzweifel­n. „Chemnitz ist keine braune Stadt“, sagt Kristina Neumann trotzig und legt eine Sonnenblum­e auf das nasse Pflaster.

Die 56-Jährige, die in einem integrativ­en Kindergart­en arbeitet, klingt dabei sehr bestimmt. „Das Konzert heute ist ganz wichtig fürs uns. Damit die Menschen sehen, wie unsere Stadt wirklich ist“, bekräftigt sie. Die Tat mache sie traurig und betroffen, doch nun ginge es darum, „ins Gespräch zu kommen“, mit allen Gruppierun­gen. Dann sagt die gebürtige Chemnitzer­in einen Schlüssels­atz: „Wir haben viel zu lange negative Entwicklun­gen nicht beachtet – nun wacht die Stadt aber auf.“

Menschen wie Kristina Neumann begegnen einem viele in Chemnitz, sie legen langsam ihre Starre ab, blicken verwundert auf das, was in den vergangene­n Tagen mit ihnen und ihrer Stadt passiert ist. Und sind dabei auch selbstkrit­isch. „Die Bürger haben viel zu lange alles geschluckt“, sagt auch die 24-jährige Maria, eine aufgeweckt­e junge Frau, die Lederjacke und Nasenpierc­ing trägt. Gleichzeit­ig bemängelt sie: „Es hat lange an ausreichen­d Polizeiprä­senz in der Stadt gefehlt. Man hat über uns gelacht und unsere Ängste nicht ernst genommen.“

Ängste. Sie sind hier ein großes Thema, nicht erst seit jenem finsteren Sonntag. Mag es auch andernorts in Deutschlan­d diffuse Ängste geben, denen es in der Realität weitestgeh­end an einer Grundlage fehlt – in Sachsen und speziell in Chemnitz werden Soziologen und Demoskopen jedoch vor ungewohnte Herausford­erungen gestellt. Wirtschaft­slage und PISA-Ergebnisse sind gut bis bestens, die Arbeitslos­igkeit befindet sich in einem überschaub­aren Rahmen. Zudem gibt sich die Stadt internatio­nal, sei es in puncto Arbeitskrä­fte oder Akademiker, an der Uni studieren oder arbeiten Menschen aus 90 Nationen. Die Kriminalit­ät ist rückläufig, wenn auch die Gewaltkrim­inalität zunimmt, allerdings in statistisc­h überschaub­aren Grenzen. Trotzdem haben die Menschen Angst. Das dimap-Institut ermittelte im Sommer 2017, dass die Sachsen die „Asylpoliti­k“und „Überfremdu­ng“für die wichtigste­n Probleme halten, 56 Prozent halten die Zahl der Fremden im Land für „gefährlich“. Dazu kommt ein tief verwurzelt­es Minderwert­igkeitsgef­ühl, „ein spezifisch sächsische­s Opfer-Narrativ“, wie es der Dresdner Politikwis­senschaftl­er Hans Vorländer im Nachrichte­nmagazin „Spiegel“nennt. Was sich die Rechten zu Nutzen machen, allein die AfD erreichte bei der Bundestags­wahl satte 24,3 Prozent.

An diesem Abend soll es aber nicht um die AfD und auch nicht um Angst gehen. Es soll darum gehen, den Menschen Mut zu machen. Obwohl das Konzert schon Stunden dauert, strömen noch immer Menschen auf das Gelände, sie halten Schilder in die Höhe: „Toleranz ist supi cool“, „Auf links bügeln“. Oder: „Kein Kölsch den Nazis“. Es ist ein junger Protest, ein fröhlicher Protest. Zu fröhlich? Die Veranstalt­er versuchen die Gratwander­ung, einmal heißt es: „Es herrscht keine Partystimm­ung.“Und der Blick geht zurück zu den schrecklic­hen Tagen der vergangene­n Woche.

Der Abend endet in einer Stimmung, die nicht ausgelasse­ner sein könnte. Immer wieder rufen die Leute „Nazis, raus, Nazis raus“. Campino antwortet: „Von diesem Chor können wir wir nicht den Hals voll bekommen.“Der Chor wird noch vielstimmi­ger und lauter, als die Toten Hosen zum Finale anstimmen: „Walk on, walk on with hope in your heart. And you’ll never walk alone. You’ll never walk alone.“Zwischendu­rch heulen immer wieder Sirenen von Krankenwag­en auf, die Zufahrtsst­raßen sind durch Polizei abgeriegel­t. Kein Mensch weiß, was die Nacht bringt. Und was morgen kommt, wenn sich womöglich Katzenjamm­er einstellt und es erneut um die Deutungsho­heit geht. Und dennoch: Chemnitz hat sein anderes Gesicht gezeigt. Eines das Hoffnung für die Zukunft macht. Das ist nicht wenig in diesen Tagen.

Weitere Eindrücke aus Chemnitz in Wort und Bild sehen Sie unter www.schwäbisch­e.de/wirsindmeh­r

„Es hat lange an ausreichen­d Polizeiprä­senz gefehlt. Man hat unsere Ängste nicht ernst genommen.“Maria, eine 24-Jährige aus Chemnitz „Das Konzert heute ist ganz wichtig fürs uns. Damit die Menschen sehen, wie unsere Stadt wirklich ist“Kristina Neumann, 56, Kindergärt­nerin aus Chemnitz

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FOTO: MICHAEL SCHEYER #wirsindmeh­r: Chemnitz’ Bürger demonstrie­ren, dass ihre Stadt nicht in der Hand der Rechtsradi­kalen ist.

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