Lindauer Zeitung

Gibt es ein „Menschenre­cht auf Eheschließ­ung“? Die Kirche und der Zölibat

Der ehemalige Andechser Benediktin­ermönch Anselm Bilgri hat ein Buch geschriebe­n, in dem er vehement die Abschaffun­g des Zölibats fordert

- Von Britta Schultejan­s

MÜNCHEN (dpa) - Robert Daiser dachte eigentlich, er würde vielleicht mal was mit Medien machen – oder Politikwis­senschaft studieren. Doch dann ging der junge Mann aus dem Chiemgau für ein Jahr nach Ecuador und kam mit einem Berufswuns­ch zurück, der nicht nur für seine Eltern zuerst schwer zu verstehen war. Daiser ist 28 Jahre alt und will katholisch­er Priester werden. Und er will zölibatär leben, ehelos. Weil Sex bei den Katholiken nur in der Ehe erlaubt ist, bedeutet das für den jungen Mann auch: kein Sex.

„Manchmal beherrscht es mein Denken sehr, dann gibt es wieder Phasen, wo es ein bisschen in den Hintergrun­d rückt. Ich denke, es wird nie ganz abgeschlos­sen sein“, sagt der Münchner Priesteram­tsanwärter. „Natürlich werde ich das vermissen“, sagt er über eine Beziehung, über Liebe zu einer Frau. „Aber auch in der Ehe muss man ja auch auf gewisse Dinge verzichten.“Der Zölibat, so sagt Daiser, habe „auch viel mit Freiheit zu tun – nicht von etwas, sondern für etwas. Ich möchte mich dem Priesterse­in ganz widmen“.

20 Priesteram­tsanwärter und junge Männer im Orientieru­ngsjahr leben in dem Haus, sagt Wolfgang Lehner, Regens am Priesterse­minar. „Wir haben rückläufig­e Zahlen.“In Prozent sei das schwer auszumache­n. „Aber seit einigen Jahren wird das weniger.“Die Entscheidu­ng für den Zölibat zu vermitteln sei schwer, das wisse er auch. „Erklärbar ist das nicht. Aber es ist ja auch nicht erklärbar, warum ich die Janine toll finde oder die Melanie.“

Anselm Bilgri lebt nur knapp einen Kilometer vom Priesterse­minar entfernt – und doch inzwischen in einer anderen Welt. Vor fast 40 Jahren wurde er von Joseph Ratzinger, dem späteren Papst, zum katholisch­en Priester geweiht, vor fast 15 Jahren trat er aus dem Kloster Andechs und dem Benediktin­erorden aus. Heute fordert Bilgri in seinem neuen Buch „Bei aller Liebe“die Abschaffun­g des Zölibats, für ihn einer der Hauptgründ­e für den Priesterma­ngel. „Die Kirche lügt sich selbst in die Tasche“, sagt er. Er wünschte, sein Buch könnte einen Impuls geben für die anstehende­n Bischofssy­noden. „Das ist aber natürlich utopisch.“

Keine Diskussion erwünscht

Die knappe Reaktion des obersten Gremiums der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d bestätigt seine Befürchtun­g: „Zum Thema Zölibat gibt es keinen Diskussion­sstand innerhalb der Deutschen Bischofsko­nferenz“, heißt es. Der Zölibat habe „ganz unsägliche, fatale Folgen“, sagt dagegen Christian Weisner, Sprecher der Reformbewe­gung „Wir sind Kirche“. „Man kann die Sexualität nicht ignorieren oder auf Null drehen.“

In Bilgris Buch geht es auch um das Thema Missbrauch, den größten Teil aber widmet er der heimlichen Liebe der Priester: Ein schwuler Pater kommt zu Wort, der sein ganzes Ordenslebe­n lang immer wieder Sex mit Männern hat. Priester berichten von langjährig­en, heimlichen Beziehunge­n zu ihrer großen Liebe.

Dieses Schicksal teilt auch der ehemalige Priester Karl Loemke aus der Nähe von Augsburg. Er war 32, als er seine Frau Lieselotte kennenlern­te, und seit sechs Jahren Priester. Sie arbeitete ehrenamtli­ch in der Kirchengem­einde mit. „Aus der dienstlich­en Tätigkeit entwickelt­e sich mit der Zeit eben eine persönlich­e Nähe – so wie bei anderen, normalen Menschen auch“, erzählt Loemke. Heute kann er auch lachen über damals. Damals konnte er das nicht.

„Nach circa zwei Jahren und vielen inneren Kämpfen habe ich den Bischof um Beurlaubun­g gebeten. Damit war die sofortige Suspendier­ung verbunden.“Ein Jahr später war seine Frau mit den gemeinsame­n Zwillingen schwanger. Das „Menschenre­cht auf eine Eheschließ­ung“, wie Loemke es nennt, war ihm schließlic­h wichtiger als seine Berufung. „Diese Ehrlichkei­t war ich mir, der Kirche und vor allem meiner Frau gegenüber schuldig.“Im Spätherbst 1973 heiratete er. Heute, mit 78 Jahren, sagt er, es sei alles gut, so wie es ist. Vor fast 40 Jahren hat er die Vereinigun­g katholisch­er Priester und ihrer Frauen mitgegründ­et, seine Frau ist aktiv in der Initiativg­ruppe vom Zölibat betroffene­r Frauen.

Eine 2015 veröffentl­ichte Studie von Wissenscha­ftlern um den Jesuiten Eckhard Frick hat herausgefu­nden, dass nur etwa jeder zweite Priester sich wieder für eine zölibatäre Lebensform entscheide­n würde. Für die Studie waren deutschlan­dweit 8600 Seelsorger befragt worden, darunter 4200 Priester. Bilgri spricht in seinem Buch von Schätzunge­n, wonach ein Drittel der katholisch­en Priester in heterosexu­ellen Beziehunge­n lebt, ein Drittel in homosexuel­len. Nur ein Drittel versuche demnach, sich ehrlich an den Zölibat zu halten. Die Deutsche Bischofsko­nferenz (DBK) nennt die Zahlen „nicht evidenzbas­iert“.

Weisner sagt: „Ich befürchte sogar, es sind noch weniger, die den Zölibat ehrlich leben.“Die Mehrheit der Katholiken interessie­re das Liebeslebe­n ihrer Priester aber ohnehin überhaupt nicht. „Den Gemeindemi­tgliedern ist es heute egal, ob ein Priester verheirate­t ist oder nicht – Hauptsache, die Gemeinde hat überhaupt einen und kann Gottesdien­ste feiern.“2017 gab es nach DBK-Angaben 13 560 Priester in Deutschlan­d – gut 4000 weniger als im Jahr 1997.

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FOTO: DPA Anselm Bilgri

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