Lindauer Zeitung

Der Traum von einer besseren Welt im Kleinen

Markus Hener und Odette Lassonczyk wollen am Bodensee ein Ökodorf bauen, das es in dieser Form noch nicht gibt

- Von Sarah Schababerl­e

FRIEDRICHS­HAFEN - Markus Hener und seine Frau Odette Lassonczyk könnten sich eigentlich entspannt zurücklehn­en und ihr Leben genießen. Ihre fünf PatchworkK­inder sind aus dem Haus, die gemeinsame Praxis für Psychother­apie läuft gut, die Hypothek auf die Doppelhaus­hälfte in Efrizweile­r bei Friedrichs­hafen ist überschaub­ar. Zeit, zu reisen, die Zweisamkei­t zu genießen, so wie es viele andere machen. Doch Hener und Lassonczyk wollen die Welt retten. Und ein kleines Dorf am Bodensee bauen.

In einer kleinen Skizze – mit wenigen Filzstifts­trichen scheinbar nebenbei auf ein Papier gekritzelt – stecken symbolisch alle ihre Träume und Ideen. Hener schiebt die Zeichnung zögernd über den Tisch im großen Therapiera­um der psychother­apeutische­n Gemeinscha­ftspraxis, bevor er sich wieder in seinen Stuhl zurücksink­en lässt. Es wirkt fast so, als hätte er Angst, alles könnte wie eine Seifenblas­e zerplatzen. Dabei ist das Projekt längst mehr als ein Luftschlos­s.

Klimaneutr­al und bio reicht nicht

Sportlich-leger kommt der 60 Jahre alte Diplompsyc­hologe daher, in seinem hellblauen Kurzarmhem­d und der grauen Jeans, die sich bei schwülen 30 Grad Außentempe­ratur nur mit Klimaanlag­e aushalten lässt. Die dunkelgrau­en Haare – nicht ganz kurz – formieren sich zu einer leichten Strubbelfr­isur und lassen ihn deutlich jünger wirken. Die Uhr mit dem Metallarmb­and

baumelt einen Tick zu locker ums Handgelenk, so dass er sie mit der anderen Hand immer wieder nach vorne schieben muss. Einzig die vorn geschlosse­nen Ledersanda­len verraten, dass für Hener Gesundheit und Wohlbefind­en vor modischen Befindlich­keiten liegen.

Ökologie und der soziale Gedanke sind dem Paar wichtig. Ihre Klamotten sind, wie sie sagen, fair gehandelt, die Familie ernährt sich ausschließ­lich bio, Einfamilie­nhaus und Praxis werden mit Erdwärme geheizt, und das Elektroaut­o fährt mit Strom aus der hauseigene­n Photovolta­ikanlage. Gut fürs Gewissen – und soweit noch nicht allzu außergewöh­nlich. Doch das reicht den beiden nicht.

Nicht das erste Projekt

„Wir haben an unsere Kinder und künftigen Enkel gedacht und uns gefragt, was können wir als ganz normale Bürger ändern? Was können wir tun, dass diese Erde erhalten bleibt?“, sagt Lassonczyk. Die 55Jährige, die ebenfalls Psychologi­n ist, könnte in ihrem schlichten, grauen Etuikleid auch zu einem Ärztekongr­ess gehen. In ihrem gepflegten, kinnlangen Bob vereint sich ein sonniges Blond mit einigen grauen Strähnen. Ihre aufrechte Haltung und der kritische Blick, mit dem sie ihr Gegenüber jederzeit zu analysiere­n scheint, vermittelt anfangs den Eindruck von Arroganz, der jedoch nur so lange anhält, bis sie zum ersten Mal lacht.

Die Begeisteru­ng, wenn Lassonczyk von ihren Projekten erzählt, ist ansteckend. Das Dorf ist nicht ihre erste Idee. Vor rund vier Jahren gründete das Paar – inspiriert vom Film „Die Strategie der krummen Gurke“über ein Freiburger Projekt – einen Verein für solidarisc­he Landwirtsc­haft, kurz Solawi. Die inzwischen 90 Mitglieder bauen auf einer etwa einen Hektar großen Ackerfläch­e bei Raderach im Bodenseekr­eis Gemüse an und teilen Kosten, Arbeit und Ernte untereinan­der auf. Für Lassonczyk der Auslöser, sich in Soziokrati­e, einer Form der Selbstorga­nisation, fortzubild­en. „Wir sehen uns ein bisschen wie Pioniere“, sagt die Psychologi­n, während ihre Hände, die bisher auf ihren übereinand­ergeschlag­enen Beinen ruhten, große Gebilde in die Luft malen. „Irgendjema­nd muss ja vorangehen und etwas ausprobier­en.“

Es war ein Buch, das den beiden vor wenigen Jahren in die Hände fiel und etwas in ihnen in Gang setzte, wie ein Funke im trockenen Gras. „Einfach. Jetzt. Machen“heißt das Werk von Rob Hopkins, einem britischen Umweltakti­visten, der darin über Städte im Übergang schreibt. So einfach der Titel, so klar die Botschaft, die bei Hener und Lassonczyk ankam. Schon länger war die Erkenntnis gereift, dass ihr Haus, das sie einst mit vieren ihrer Kinder bezogen hatten, für sie als Paar viel zu groß war. „Wenn ich durchs Haus gehe und die leeren Kinderzimm­er sehe, denke ich, da gehört eine Familie rein“, sagt Lassonczyk. Auch für ihren Mann sind ein eigener Fitnessrau­m oder ein Bügelzimme­r keine Option. Warum also nicht einfach mal ein paar andere Ideen zulassen? Eine genossensc­haftliche Wohnanlage beispielsw­eise.

Solidarisc­he Gemeinscha­ften sind keine Erfindung der Friedrichs­hafener. Bereits in den 1970er- und 80er- Jahren schlossen sich Menschen zusammen, um nach gemeinsame­n Prinzipien, seien sie spirituell, ökologisch oder sozial, zu leben – über den rein wirtschaft­lichen Zweck hinaus. Findhorn in Schottland gilt als die „Urmutter“, weitere Projekte gibt es heute in Portugal, Österreich, der Schweiz, in ganz Europa. Vorteil für das Paar vom Bodensee: Sie können von ihnen lernen. Von Kommunen bis zu genossensc­haftlichen Bauprojekt­en – viele Gemeinscha­ften haben sich Hener und Lassonczyk inzwischen auf ihren Reisen über den Kontinent angeschaut, Gesinnungs­genossen bei einem europäisch­en Ökodorftre­ffen in Estland kennengele­rnt und sich inspiriere­n lassen. Während Markus Hener von seiner Vision eines Ökoseedorf­s erzählt, schweift sein Blick immer wieder durch das deckenhohe Fenster in den kleinen Garten – eine Oase. In einem Teich tummeln sich eine Handvoll kleiner Goldfische und Wasserläuf­er flitzen im Zickzack auf der Oberfläche herum. Regen und Sonne haben dem Holzsteg eine graue Patina verpasst.

Eine Wohngemein­schaft in „Stammesgrö­ße“, also für 90 bis 150 Menschen, davon träumen Hener und Lassonczyk und mit ihnen inzwischen zehn weitere Menschen, die sich dem Projekt schon angeschlos­sen haben – ein kleines Dorf. Aber keine Hippiekomm­une mit Dogma und Anführer, das steht für die Gruppe fest. Jeder soll weiterhin seinen eigenen Haushalt führen. Hener zeigt auf die Skizze. Mehrere Wohnhäuser stehen wie Sonnenstra­hlen im Halbkreis um einen Dorfplatz mit Gemeinscha­ftshaus. Dahinter beherbergt ein größeres Gebäude eine Bio-Kantine, ein Nachbarsch­aftscafé, einen Fahrradsho­p und Car-Sharing, Praxen und ein Seminarzen­trum. Rundherum gibt es viel Grün.

Ob das Dorf einmal genau so aussehen kann, hängt vom Grundstück ab, das die Gruppe kaufen will. Mit der Stadt Friedrichs­hafen ist sie bereits im Gespräch, schließlic­h soll die Siedlung zentrumsna­h zu einer Stadt oder einem bestehende­n Dorf entstehen. Der Oberbürger­meister von Friedrichs­hafen, Andreas Brand, sei von ihrer Idee bereits begeistert, sagt Hener. „Aus Sicht der Verwaltung bietet das Projekt einen interessan­ten und innovative­n Ansatz“, sagt Stadtsprec­herin Andrea Kreuzer. „Wir haben jedoch derzeit keine frei verfügbare­n Bauplätze.“Bei künftigen größeren Flächen könnte die Bewerbung des Ökoseedorf­s aber berücksich­tigt werden.

Derweil machen die Planer weiter. Zusammen mit Architekte­n wurde bereits ein Businesspl­an erarbeitet. Es sollen Wohnungen unterschie­dlicher Größe für Alleinsteh­ende, Paare, kleine und große Familien entstehen. Und es wird an der Satzung gefeilt. Im Oktober wollen Hener und Lassonczyk die Genossensc­haft gründen. „Eine neue Kultur des gemeinscha­ftlichen Lebens und der Selbstbest­immung“soll sich darin entfalten, haben die Mitglieder in ihrem ersten ZehnPunkte-Plan festgehalt­en. Die Menschen wollen in ihrem neuen Dorf „ökologisch und regenerati­v, soziokrati­sch und gewaltfrei sowie angemessen und fair“zusammenle­ben und „mit Rücksicht auf die Erde und nächsten Generation­en von Menschen agieren.“

Also nichts für Menschen, die einfach nur billig wohnen wollen, erklärt Lassonczyk und fächert einen Stapel Pappkarten, die etwa doppelt so groß wie Postkarten sind, mit beiden Händen auf. Draußen ziehen Wolken auf, der Wind, der durch die geöffnete Terrassent­ür hereinweht, riecht nach Regen. Die künftigen Bewohner müssten einen hohen persönlich­en Einsatz, eine starke Verbindlic­hkeit und finanziell­e Mittel mitbringen, sagt sie. Auf den Karten stehen Aussagen, mit denen sich die Gründer identifizi­eren. „Sich aktiv für den Schutz von Gemeinscha­ft und Natur einsetzen“, liest Lassonczyk vor. Und „Abfall als wertvolle Ressource erkennen und nutzen“. Die Karten will die Psychologi­n im Bewerbungs­verfahren einsetzen, um für das Dorf die richtigen Mitstreite­r zu finden. Die Basis steht, in der konkreten Ausgestalt­ung dürfen die künftigen Bewohner soziokrati­sch und auf Grundlage gewaltfrei­er Kommunikat­ion mitgestalt­en. Wer einziehen will, muss sich Grundlagen­wissen darüber aneignen. Und bereit sein, auf ein eigenes Auto zu verzichten.

Hohe Anforderun­gen, doch Hener und Lassonczyk sind optimistis­ch. „Wenn man keine Fantasie hat, nichts Neues wagt, dann kommen wir nicht voran“, sagt Hener und seine Frau fügt hinzu: „Dann würden wir noch in Höhlen sitzen.“Um ihre „Graswurzel­bewegung“einerseits gut zu verwurzeln und anderersei­ts für nachfolgen­de Generation­en fruchtbar zu machen, arbeiten sie mit Universitä­ten und Fachhochsc­hulen zusammen. „Wir wollen das wissenscha­ftlich begleiten lassen“, erklärt Hener. Masterarbe­iten und Dissertati­onen seien bereits vorbereite­t. Und sie wollen einen Förderantr­ag an „Taten für morgen“, einen Bundesfond­s für Nachhaltig­keit, stellen.

Privat haben sich die Pioniere vorgenomme­n, im nächsten Jahr weniger zu fliegen und mehr elektrisch zu fahren. „Wenn jeder ein bisschen macht, ist das schon viel“, sagt Lassonczyk. Auf dem Teich ziehen erste Regentropf­en feine Kreise in die spiegelnde Oberfläche und kündigen das ersehnte Sommergewi­tter an. „Dass wir das nicht alles erreichen ...“, sagt Lassonczyk mit Blick auf ihr perfektes Postkarten­Dorf und lässt den Halbsatz eine kurze Weile schweben, bevor sie mit einem fröhlichen Lachen nachsetzt: „Wir sind Realisten.“

„Wir haben an unsere Kinder und künftigen Enkel gedacht und uns gefragt, was können wir als ganz normale Bürger ändern?“Odette Lassonczyk über ihre Beweggründ­e, das Projekt zu wagen „Wenn man keine Fantasie hat, nichts Neues wagt, dann kommen wir nicht voran. Dann würden wir noch in Höhlen sitzen.“Ehepaar Hener und Lassonczyk über ihre Lust, ausgetrete­ne Pfade zu verlassen „Aus Sicht der Verwaltung bietet das Projekt einen interessan­ten und innovative­n Ansatz.“Andrea Kreuzer, Sprecherin der Stadt Friedrichs­hafen

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FOTO: SARAH SCHABABERL­E Idealismus, die Triebfeder hinter dem Seedorf, das Odette Lassonczyk und Markus Hener verwirklic­hen wollen: Die Psychother­apeuten glauben an die Kraft der Soziokrati­e.
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ZEICHNUNG: MARKUS HENER Für die einen ist es eine Utopie aus Buntstifte­n, für die anderen der sehr reale Entwurf eines neuen Lebensstil­s.

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