Lindauer Zeitung

Berührende Bilder

Stadthaus Ulm zeigt Andy Spyras Fotografie­n geraubter Mädchen im Herzen Afrikas

- Von Antje Merke

ULM - Verborgen in den Sümpfen eines Waldes im Nordosten Nigerias liegt das Hauptquart­ier einer Terrorgrup­pe, die in ihrer Grausamkei­t fast beispiello­s ist. Die Welt nennt sie Boko Haram (übersetzt: Westliche Bildung ist Sünde), denn ihre Anhänger lehnen alles Westliche ab. Boko Haram unterjocht die Muslime und führt Krieg gegen die Christen. Im Namen ihres Glaubens überfallen sie ganze Dörfer, töten alle Männer, verschlepp­en Frauen und Kinder. Die Brutalität der Islamisten machte internatio­nal Schlagzeil­en, als im April 2014 ein Kommando 276 Schülerinn­en aus einem Internat in Chibok entführte. Der Fotograf Andy Spyra und der Journalist Wolfgang Bauer reisten ein Jahr später nach Nigeria, um mit jenen Frauen und Mädchen zu sprechen, denen die Flucht aus ihrer Gefangensc­haft gelungen war. Die Aufnahmen von ihnen sind jetzt im Stadthaus Ulm zu sehen. Eine überwältig­ende Ausstellun­g, die nachdenkli­ch stimmt.

Zainabs Blick geht ins Leere, das Baby sitzt wie ein Fremdkörpe­r auf ihrem Schoß, wobei die junge Frau immerhin den Kopf ihrer Tochter Isa mit einer Hand stützt. Der Hintergrun­d ist tiefschwar­z, das Licht kommt von links und fällt wie bei den Gemälden von Caravaggio nur auf Mutter und Kind. Die Szene wirkt madonnengl­eich, doch der Schein trügt. Zainab wurde in ihrer Gefangensc­haft in einem Lager der Boko Haram mit einem Kämpfer verheirate­t, der sie vergewalti­gte und schwängert­e. Sie lebt wieder in ihrem Heimatort, wo sie ausgegrenz­t wird. Denn die Christin will das Kind nicht töten, um sich nicht zu versündige­n.

Ganz nah dran

Die Geschichte der jungen Nigerianer­in ist nur ein Beispiel von vielen, die die Ausstellun­g „Die geraubten Mädchen – Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas“erzählt. Sadiya und Agnes, Hajaru Buba und Sarah etwa ging es genauso. Sie alle haben ein Kind von ihrem Peiniger, für das sie keine Muttergefü­hle empfinden. Andere wiederum wie Talatu, Rabi oder Hauwa Isa wurden zwar ebenfalls verschlepp­t und zwangsverh­eiratet, aber zumindest nicht schwanger.

Andy Spyras Fotografie­n, alle in Schwarz-Weiß, haben ihre eigene Handschrif­t. Er porträtier­t die hochgradig traumatisi­erten Frauen und Mädchen aus unmittelba­rer Nähe. Ihre Gesichter sind ernst, keiner lacht, viele starren ins Leere, andere schauen uns traurig an, wieder andere strahlen trotz allem eine unglaublic­he Stärke aus. Man merkt den Bildern an, dass der Fotograf sich für das Schicksal der Frauen interessie­rt und ihnen respektvol­l begegnet. Er fasst ihr Leid in Ikonen, ohne dass es voyeuristi­sch wirkt. Eine einzige Aufnahme zeigt einen verhüllten Boko-Haram-Kämpfer, dessen Freundlich­keit und Schönheit den 31-jährigen Fotografen fassungslo­s machte, weil solche Eigenschaf­ten so gar nicht zum Barbarentu­m passen wollen.

Für ihre preisgekrö­nte Reportage, die in der Zeitung „Die Zeit“erschienen ist und mittlerwei­le als Buch vorliegt, haben die beiden deutschen Journalist­en auch die Lebensumst­ände im Nordosten Nigerias dokumentie­rt. Einige dieser Fotografie­n sind in der Ausstellun­g oben unterm Dach versammelt. Zu entdecken ist eine bitterarme Welt: Kinder suchen auf Mülldeponi­en nach Wertstoffe­n, die sie verkaufen können, das Schulmater­ial besteht aus Stöckchen, Steinen und Kreide und die Häuser erinnern an Baracken. Junge Frauen auf der Straße werden kritisch beäugt, da die Islamisten sie gezielt als Selbstmord­attentäter­innen einsetzen. Christlich­e Kirchen müssen wegen der Anschlagsg­efahr von der Armee bewacht werden. Und wieder erzählen die Bilder persönlich­e Geschichte­n, die den Betrachter berühren. Etwa von der acht Monate alten Afiniki, die ihren linken Arm bei einem Boko-Haram-Angriff während einer Messe in der Kirche verlor.

Ein komplexes Thema

Ein Ende der Gräueltate­n ist nicht in Sicht. Rund 15 000 Boko-HaramKämpf­er töten, entführen und quälen weiter. 2,6 Millionen Menschen sind vor den Terroriste­n auf der Flucht. „Das Thema ist so komplex, so verfilzt wie der Wald in diesem Gebiet“, sagt Stadthausl­eiterin Karla Nieraad. Boko Haram finanziert sich hauptsächl­ich durch den Verkauf von Drogen und besorgt sich dann mit dem Geld Waffen aus Libyen. Woher diese Waffen kommen, darüber deckt man in der westlichen Welt lieber den Mantel des Schweigens. Eine Ausstellun­g, die nachdenkli­ch stimmt – nicht nur wegen der beispiello­sen Grausamkei­t von Boko Haram, sondern auch wegen der Hintermänn­er, die skrupellos­e Geschäfte mit den Terroriste­n machen.

 ?? FOTO: ANDY SPYRA ?? Die Aufnahme von Zainab und ihrer Tochter Isa ist im März 2016 entstanden. Das Kind stammt von einem BokoHaram-Kämpfer. Die junge Frau hat keine Beziehung zu dem Kind.
FOTO: ANDY SPYRA Die Aufnahme von Zainab und ihrer Tochter Isa ist im März 2016 entstanden. Das Kind stammt von einem BokoHaram-Kämpfer. Die junge Frau hat keine Beziehung zu dem Kind.

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