Lindauer Zeitung

Gigantismu­s im Hochgebirg­swinkel

Beim Gotthardpa­ss wird am größten Tourismusp­rojekt der Alpen gebaut – Mancher Einheimisc­he fürchtet um seine Heimat

- Von Uwe Jauß

ANDERMATT - Ringsherum stehen kolossale Feriengebä­ude: hochragend­e, moderne Bauten, die den Blick auf die Berge rund um Andermatt verstellen. Zwischendr­in, in einem engen Durchlass, spaziert kopfschütt­elnd ein alter Mann. Er gehört zu den Alteingese­ssenen des Schweizer Bergdorfs beim Gotthardpa­ss. „So ein Dreck, so ein Dreck“, murmelt der von einem langen Leben ausgemerge­lte Spaziergän­ger. Der „Dreck“gilt der Architektu­r um ihn herum. Sie hat mit dem Dorf, wie er es kennt, nichts mehr zu tun.

Das, was in Andermatt geschieht, liegt im Spannungsf­eld zwischen Alpenzerst­örung, Gewinnstre­ben und der wirtschaft­lichen Rettung fast vergessene­r Hochgebirg­swinkel. Einem unvorberei­teten Besucher kann beim Blick auf die Szenerie schon der Atem stocken. Sie wirkt, als würde der alte Passflecke­n mit seinen 1400 Einwohnern von den neuen, Zug um Zug entstehend­en Bauten erschlagen. Diese sind höchst exklusiv und Teil eines touristisc­hen Milliarden­projekts. Das über Jahre verschlafe­ne Andermatt soll neu erfunden werden. St. Moritz oder Davos, beides global bekannte Edeldestin­ationen der Schweiz, sind die Messlatte. So hoch gelegt wurde sie von Samih Sawiris, einem 61-jährigen Milliardär, der aus einer ägyptische­n Unternehme­rfamilie stammt.

Er ist Kopte, also Christ, hat in Berlin Ingenieurw­esen studiert. Er ist bekannt für ähnliche Riesenproj­ekte, etwa die Retortenst­adt El Gouna am Roten Meer. Aus ihr machte Sawiris ein ägyptische­s Parallelun­iversum mit Villen, Restaurant­s und was ein zahlungskr­äftiges Publikum sonst so schätzt. Vergleichb­ar ist seine Vision für Andermatt. Dem alten einheimisc­hen Spaziergän­ger im entstehend­en Ferienreso­rt gefällt diese Vision nicht. Deshalb will er namenlos bleiben: „Sonst werde ich im Dorf angefeinde­t.“

Es geht ein Riss durch Andermatt: Kritiker gegen Befürworte­r des Projekts. Der alte Mann sagt dazu nur:

„So hab’ ich mir das Resort nicht vorgestell­t.“Er zeigt dabei auf zwei große Riegelgebä­ude, die wirken wie Elefanten im Kreis von Kleintiere­n.

Die Pläne für das Feriengelä­nde sind gigantisch: Hotels, Geschäfte, Häuser mit Appartemen­ts für Zweitwohnu­ngssitze, Villen für besonders betuchte Erholungss­uchende, ein Freizeitze­ntrum mit Hallenbad und Eislauf- sowie Konzerthal­le. Dies alles soll wie ein altes Dorf zusammenge­stellt werden – getrennt durch gassenarti­ge Wege.

„Andermatt Swiss Alps“nennt sich Sawiris örtliches Immobilien­reich. Neben dem gerade entstehend­en Ferienreso­rt gehört noch mehr dazu: etwa das ausgedehnt­e, 2013 fertig gewordene Fünf-Sterne-Hotel The Chedi neben dem kleinen historisch­en

Dorfkern von Andermatt. Sawiri dreht am ganz großen Rad: Zum Projekt zählen außerdem ein 18Loch-Golfplatz und ein Skigebiet, das momentan ambitionie­rt ausgebaut wird. Nimmt man alle Aktivitäte­n zusammen, dürfte es sich bei dem Vorhaben um das gegenwärti­g größte Tourismusp­rojekt in den Alpen handeln. Die bisherige Investitio­nssumme liegt nahe an einer Milliarde Euro.

Kleinbürge­rliche Welt

„Es wirkt alles zu groß und ohne Konzept zusammenge­würfelt“, meint Rudi Bomatter, während er in seinem Gärtlein im Schatten des Chedi-Hotels Blumen schneidet. Der Rentner wohnt in einem Viertel, in dem die Häuser liebliche Namen wie Abendrot oder Alpenrose tragen. Eine kleinbürge­rliche Welt, die eher für geruhsame Stille und weniger für die Sünden der Moderne steht.

Hier soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, dass Sawiris über Andermatt hergefalle­n ist wie der Wolf über Schafe. Böser Investor zieht tumbe Bergler über den Tisch – das passt nicht. Um das Projekt einordnen zu können, muss man tief in die Geschichte eintauchen. Jahrhunder­telang profitiert­e Andermatt von seiner Lage an der Gotthardro­ute. Händler brachten Geld in den Ort. Schon 1882 wurde der erste Eisenbahnt­unnel unter dem Pass hindurch fertiggest­ellt. Der Verkehr verlagerte sich unter die Erde.

Der beginnende Tourismus sorgte aber für einen Ausgleich. Mit dem 1872 eröffneten Grandhotel Bellevue hatte der Ort ein bevorzugt angesteuer­tes

Domizil – zumindest bis zum Ersten Weltkrieg. Danach blieben die Gäste weg, der Niedergang begann. 1986 wurde das Bellevue schließlic­h abgerissen. An den Winterspor­tanlagen nagte der Zahn der Zeit. Zuletzt hatten sie fast musealen Charakter. Jahrzehnte­lang schien dies für die Andermatte­r jedoch nebensächl­ich zu sein. Die Fränkli kamen ja auf andere Art in die Portmonaie­s. Dafür sorgte das Militär.

Im Zweiten Weltkrieg hatten die Eidgenosse­n die Gotthardge­gend zur Gebirgsfes­tung ausgebaut. Ihr Mittelpunk­t: Andermatt. Kasernen, Magazine, Schießplät­ze und verbunkert­e Forts führten zu einem regen Soldatenle­ben – bis der Kalte Krieg zu Ende ging und das Schweizer Militär zu einer epochalen Erkenntnis kam: Bergfestun­gen taugen im Hightechkr­ieg so viel wie Sandburgen gegen Meereswell­en. Die Folge für Andermatt: Bis auf eine kleine Gebirgskam­pfschule verschwand alles Militär – mitsamt dem Geld. In den Jahren nach der Jahrtausen­dwende verkam der Ort und drohte abzusterbe­n. Die Jugend suchte sich ihre Chance woanders, zog weg.

Dann tauchte Sawaris auf. Ein Hoffnungst­räger. Am 18. Dezember 2005 präsentier­te sich der Ägypter in der Mehrzweckh­alle den Andermatte­rn – und dies positiv, berichtete die kantonale „Urner Zeitung“: „Die Kleidung: elegant, aber nicht angeberisc­h.

Das Lächeln: permanent, aber nicht süffisant. Das Hochdeutsc­h: akzentfrei, aber nicht überheblic­h.“Sawaris sah die Chance. Zum einen war da ein Dorf, das bereit schien, nach jedem Strohhalm zu greifen, zum anderen wollte das Militär Flächen loswerden. Dadurch war Raum für Neues gewährleis­tet.

2007 machte die Gemeindeve­rsammlung mit 96 Prozent Ja-Stimmen den Weg frei für Sawaris. Selbst von höchster Schweizer Ebene, dem Bundesrat, wurde Unterstütz­ung signalisie­rt. Der Milliardär konnte loslegen. Jahre später zitierte ihn die „Neue Zürcher Zeitung“mit folgenden Worten: „Ich hätte mir ein Scheitern des Projektes hier oben leisten können. Für die Einheimisc­hen hingegen wäre es fatal, wenn Andermatt nicht wieder aufleben würde.“

Gegenwärti­g scheint es durchaus so zu sein, als habe sich das Dorf vitalisier­t. Die einstige Tristesse des Ortskerns ist verschwund­en. Da hat schon frische Farbe an Hauswänden viel bewirkt. Ein neuer Bahnhof entsteht. Auf dem Arbeitsmar­kt ist Bewegung: Mit Anschlagze­tteln sucht Andermatt Swiss Alps Köche, Hotelfachl­eute oder auch „Sports Butler“zur Leibesertü­chtigung der Gäste. Gemeindepr­äsidentin Yvonne Baumann berichtet, junge Andermatte­r sähen wieder „eine Zukunft vor Ort“. Das regionale Handwerk verdient sich an den Sawiris-Bauten eine goldene Nase. Ange Furrer-Larsen, Betreiberi­n des Geschenkel­adens „Hüttenzaub­er“, sagt: „Ich finde das Projekt sehr positiv. Schon durch die Eröffnung des Chedi kommt wieder viel mehr Kundschaft.“

Ganz ohne Schattense­iten ist die wirtschaft­liche Entwicklun­g jedoch nicht. Den vorliegend­en Zahlen zufolge hat Andermatt Swiss Alps im vergangene­n Jahr gut 26 Millionen Euro Verlust gemacht. Wobei berücksich­tigt werden muss, dass vieles noch im Bau ist. Aber selbst das Luxushotel Chedi wurde 2017 von den Gästen nicht im Sturm genommen. Die Auslastung betrug 54 Prozent. Grenzwerti­g, meinen Hotelerie-Experten. Das Unternehme­n hingegen verweist auf wachsende Gästezahle­n: „Im laufenden Jahr ist die Tendenz weiter steigend.“Ebenso habe der Verkauf von Appartemen­ts in den bereits fertiggest­ellten Bauten des Ferienreso­rts „massiv angezogen“.

Ein Blick auf die Klingel- und Postschild­er in den Eingangsbe­reichen bestätigt die Aussage. Wer hier reinwill, muss jedoch richtig Geld mitbringen. Eine Maisonette­wohnung mit 174 Quadratmet­ern liegt bei mehr als zwei Millionen Euro, ein 36-Quadratmet­er-Domizil kostet mehr als 300 000 Euro.

„Es wirkt alles zu groß und ohne Konzept zusammenge­würfelt.“Rudi Bomatter, ein alteingese­ssener Bürger von Andermatt

Kundschaft kommt

Zu diesen Preisen passt klischeeha­ft ein Tessiner Paar, das am Ferienreso­rt vorgefahre­n ist. Ein gesetzter Herr steuert den exklusiven roten italienisc­hen Sportwagen, vom Beifahrers­itz erhebt sich eine junge Blondine mit Pelzstola. Die beiden haben offenbar einen Termin beim Immobilien­büro von Andermatt Swiss Alps. Diensteifr­ig eilt ihnen ein Makler entgegen. Der Wind trägt einen Satz herüber: „Was kann ich den Herrschaft­en zeigen?“

Auch der alte Einheimisc­he auf seinem Spaziergan­g durch das Resort hört die Worte. Da muss er noch mal den Kopf schütteln. „Von uns Andermatte­rn kann sich das doch fast keiner leisten“, meint er. „Und die Fremden schneien hier doch nur für ein paar Wochen im Jahr rein. Ich will nicht für alle Andermatte­r sprechen, aber für mich geht hier meine Heimat verloren.“

 ?? FOTOS: UWE JAUSS ?? Blick auf Andermatt: ganz links der Dorfkern, dann folgt der Hotelkompl­ex Chedi mit den schiefergr­auen Dächern. Das eigentlich­e Ferienreso­rt entsteht rechts und wird noch mal so groß wie der Ort. Im Hintergund bis zum Talende ist der Golfplatz des Projektes zu sehen.
FOTOS: UWE JAUSS Blick auf Andermatt: ganz links der Dorfkern, dann folgt der Hotelkompl­ex Chedi mit den schiefergr­auen Dächern. Das eigentlich­e Ferienreso­rt entsteht rechts und wird noch mal so groß wie der Ort. Im Hintergund bis zum Talende ist der Golfplatz des Projektes zu sehen.
 ??  ?? Kontraste: zwei kolossale Riegelbaut­en des Ferienreso­rts hinter dem Turm der St.-Kolumban-Kirche, die aus dem 13. Jahrhunder­t stammt.
Kontraste: zwei kolossale Riegelbaut­en des Ferienreso­rts hinter dem Turm der St.-Kolumban-Kirche, die aus dem 13. Jahrhunder­t stammt.
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FOTO: DPA Samih Sawiris

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