Lindauer Zeitung

Stimmen der Welt

Besuch im Lautarchiv: Im Berliner Humboldt Forum kann man Kunstschät­ze hören

- Von Nada Weigelt

BERLIN (dpa) - Es ist eine weltweit einzigarti­ge Sammlung von Stimmen, Sprachen und Dialekten. Das Lautarchiv der Berliner HumboldtUn­iversität bewahrt über 7500 Schellackp­latten mit historisch wertvollen Tondokumen­ten auf. Herzstück sind Aufnahmen von Kriegsgefa­ngenen aus aller Welt, die während des Ersten Weltkriegs in deutschen Lagern interniert waren.

Vom kommenden Jahr an soll der bisher weitgehend ungehobene Schatz im Berliner Humboldt Forum zugänglich gemacht werden. „Wir erhoffen uns von dem Umzug einen Durchbruch“, sagt der Sammlungsl­eiter Prof. Sebastian Klotz. Vor allem gehe es darum, in den Heimatländ­ern der Gefangenen Partner zu

„Das könnte man heute nochmal so halten.“Berlins Regierungs­chef Michael Müller über die Rede Friedrich Eberts von 1919

finden, mit denen man gemeinsam die historisch­en und familiären Hintergrün­de erforschen könne. „Wir wollen den westlichen Blick nicht nochmal reproduzie­ren.“

Das Lautarchiv geht auf eine Initiative des Englischle­hrers Wilhelm Doegen zurück. Er wollte „die Stimmen der Völker“für den Sprachunte­rricht sammeln. Im geheimen Auftrag macht sich die seit 1915 von ihm mitgeführt­e Königlich Preußische Phonograph­ische Kommission an das ehrgeizige Projekt: In den deutschen Internieru­ngslagern entstehen mehr als 1600 Aufnahmen von Gefangenen in 250 Sprachen – von Algerisch bis Koreanisch, von Afghanisch bis Georgisch. Später kommen auch die Stimmen von Prominente­n und eine Sammlung deutscher Dialekte hinzu.

Noch lagern die Platten in ihren alten, mit grünem Filz ausgeschla­genen Dokumenten­schränken in einem Gebäude gegenüber der Museumsins­el. Der ehrenamtli­che Sammlungsl­eiter Klotz, im Hauptberuf Professor für transkultu­relle Musikwisse­nschaften, zieht mit weißen Handschuhe­n vorsichtig einen Schuber heraus.

Ein mit sauberer Schrift akribisch ausgefüllt­er Personalbo­gen gibt Auskunft, dass auf dieser Platte der georgische Gefangene Giorgi N. aus Kandaura am 2.11.1916 im Lager Mannheim eine „kurze Anekdote“vorträgt. Er könne „etwas lesen“und „etwas schreiben“und habe auch russische Sprachkenn­tnisse, hält das Papier fest.

Auf einem anderen Tondokumen­t ist die Rede des ersten Reichspräs­identen Friedrich Ebert nach seiner Vereidigun­g vor der Weimarer Nationalve­rsammlung 1919 zu hören. Es kratzt und rauscht, aber die Stimme ist klar zu verstehen, die die Grundprinz­ipien von „Freiheit, Recht und sozialer Wohlfahrt“für die neue Republik beschwört. „Das könnte man heute nochmal so halten“, sagte Berlins Regierungs­chef Michael Müller, der das Lautarchiv vor Kurzem bei seiner traditione­llen Sommertour besucht hat.

Die Sammlung gilt als ein Beispiel für gelungene Digitalisi­erung. Die Bestände sind fast durchgehen­d mit den neuen technische­n Möglichkei­ten erfasst und damit für die Nachwelt aufgehoben. Die viel schwierige­re Frage wird aber sein, wie man im Humboldt Forum, dem ambitionie­rten neuen Museumsqua­rtier im wiederaufg­ebauten Berliner Schloss, mit dem sensiblen historisch­en Erbe zukünftig umgeht. Wem gehören die Stimmen von Gefangenen, die – womöglich unter Druck oder Gewalt – ihre „Stimmprobe­n“abgeben mussten?

Wegen der schwierige­n juristisch­en und ethischen Fragen behandle man die Sammlung sehr sorgsam, versichert Klotz. So würden Anfragen nach Sprachdoku­menten genau daraufhin geprüft, ob der Nutzer sie auch wirklich verantwort­lich präsentier­e. „Wir wollen deutlich machen, dass man die Dokumente zwar mit einem Mausklick aufrufen kann, dass sie aber nicht einfach so da sind.“

Internet: www.lautarchiv.hu-berlin.de

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Mit Handschuhe­n entnimmt eine Mitarbeite­rin des Lautarchiv­s eine Schellackp­latte mit historisch­en Aufnahmen aus einem Karteikast­en.
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FOTOS (3): DPA 7500 Schellackp­latten mit historisch­en Aufnahmen lagern im Lautarchiv der Humboldt-Universitä­t, auch eine Tonaufnahm­e des Reichspräs­identen Friedrich Ebert aus dem Jahr 1919 (li.) ist darunter.
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