Lindauer Zeitung

Schreck lass nach!

Die Angst vor Spinnen oder schwindele­rregenden Hochhäuser­n kann überwältig­end sein – Aber Phobien können mit Ausflügen in die virtuelle Realität geheilt werden

- Von Ruth van Doornik

Vom Türrahmen baumelt eine Spinne. Fußballgro­ß. Haarig. Ekelhaft. „Schauen Sie mal zu ihren Füßen hinunter“, fordert Psychother­apeut Andreas Mühlberger auf. Ahhh. Noch so ein braunes Monster. Bedrohlich hebt es die Vorderbein­e, lässt sein Mundwerkze­ug auf und zu schnappen. „Gehen Sie ruhig einen Schritt auf das Tier zu“, fordert der Professor auf. Für Menschen mit Spinnenpho­bie der reinste Horror. Auch wenn sie wissen, dass die Achtbeiner nicht wirklich existieren, sondern am Computer entwickelt wurden.

Professor Andreas Mühlberger von der Universitä­t Regensburg hilft Patienten mit Hightech ihre Phobien zu überwinden. Mit einem Gamepad in den Händen und dem Head Mounted Display, einer Art 3D-Brille, auf dem Kopf, schickt er sie in die virtuelle Realität, um sie dort mit ihren schlimmste­n Ängsten zu konfrontie­ren: dem Blick in die Tiefe, dem Start des Fliegers oder einem Vortrag vor Publikum. „Wer es schafft, in diese Situation reinzugehe­n und sie auszuhalte­n, wird feststelle­n, dass die Angst von selbst nachlässt und die befürchtet­e Katastroph­e nicht eintritt“, erklärt der auf diesem Gebiet führende Wissenscha­ftler. Der Erfolg ist erstaunlic­h. Nach wenigen Sitzungen sind die meisten Patienten geheilt.

Hilfe für Millionen Menschen

Weltweit wird mit Hochdruck zum Einsatz von VR-Technik in der Psychother­apie geforscht. Bislang gibt es die sogenannte Exposition­stherapie mit Virtual Reality (VR). Sie wird in Deutschlan­d aber nur in Bayern für die Allgemeinh­eit angeboten: an den Hochschula­mbulanzen in Würzburg und Regensburg. Zu teuer die Technik, zu gering noch das Angebot an spezifisch­er Software. Doch in fünf Jahren, ist sich der Forscher sicher, wird sie flächendec­kend in den Praxen Einzug halten – und Millionen Menschen helfen. Denn der Bedarf ist enorm. Phobien sind weit verbreitet, fast schon eine Volkskrank­heit. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts leiden mehr als zehn Prozent der Bevölkerun­g an einer spezifisch­en Angststöru­ng.

Hier hat man vor einer bestimmten Situation oder einem Objekt panische Angst. „Das kann soweit führen, dass Leute Räume ihres Hauses aus Angst vor einer Spinne nicht mehr nutzen oder nicht mehr in den Biergarten gehen – also massiv in ihrer Lebensführ­ung eingeschrä­nkt sind“, sagt Mühlberger.

Phobien überwinden

Dabei lassen sich Phobien generell gut überwinden. Allerdings bedeutet das oft großen Aufwand. Bei der klassische­n Exposition­stherapie wird der Psychologe zum Spinnenfän­ger, muss mit dem Patienten enge Aufzüge besteigen oder volle Kaufhäuser besuchen. „Darum findet das im Praxisallt­ag schon rein aus logistisch­en Gründen viel zu selten statt“, weiß Mühlberger.

Genau hier liegen ihm zufolge die Vorteile der VR-Therapie. „Sie ist deutlich effektiver und einfacher durchzufüh­ren.“Mit dem technische­n Fortschrit­t könne man das Szenario künftig nicht nur immer besser der spezifisch­en Angst – etwa vor dem Start der Flugzeugtu­rbinen – anpassen, sondern auch beliebig oft wiederhole­n. „Im echten Leben ist es hingegen schwierig, sieben verschiede­ne Türme mit dem Therapeute­n zu besteigen“, so der Professor, der gerade insbesonde­re zu sozialen Phobien forscht. Genauso bedeutend ist die Akzeptanz der fortschrit­tlichen Therapiefo­rm. „Fast 80 Prozent würden sie der klassische­n Konfrontat­ion vorziehen.“Die Idee, in einem geschützte­n Rahmen in eine virtuelle Situation reinzugehe­n, sei für viele einfacher und weniger belastend. Mühlberger ist sich sicher: Wenn es flächendec­kend Möglichkei­ten zu einer VR-Therapie gäbe, würden sich mehr Patienten deutlich früher für eine Behandlung entscheide­n.

Und die Anwendungs­bereiche der Cyber-Brillen sind bei Weitem nicht nur auf Ängste beschränkt. Suchtkrank­e könnten in eine virtuelle Bar gehen und lernen den Druck nach Alkohol, Drogen oder Nikotin auszuhalte­n, Menschen mit Sozialphob­ien in Kaffeehaus­situatione­n üben, auf andere zuzugehen. Sogar Schmerzen werden mit VR vermindert. An der School of Medicine der Universitä­t Washington werden Patienten mit Brandwunde­n in eine Art Schneewelt geschickt. „Das hat eine vergleichb­are Wirkung wie eine Behandlung mit Morphin“, weiß Mühlberger, der internatio­nal vernetzt ist. In den kommenden Jahren werde sich noch sehr viel tun.

Atemnot und Herzrasen

Nicole Vehring hat sich in Regensburg behandeln lassen. Zittern, Atemnot, Herzrasen und das Gefühl, gleich in die Tiefe zu fallen: Die Höhenangst hatte die Mutter über Jahre fest im Griff. „Ich konnte nicht mal mehr die Fenster im Dachgescho­ss unseres Hauses putzen“, sagt die 40-Jährige. Wenn ihr Mann und die zwei Söhne eine Aussichtsp­lattform bestiegen, blieb die Mutter regelrecht panisch zurück. Bis sie mit Andreas Mühlberger einen virtuellen Ausflug auf den Bottroper Tetraeder nahe ihrem Zuhause machte. Und nach nur knapp zwei Stunden geheilt zurückkam. Gondeln, Hängebrück­en, gläserne Böden? „Sind heute kein Problem mehr“, sagt die Frau aus dem Ruhrgebiet. Dabei hatte sie im Vorfeld große Zweifel. „Als ich die Brille aufhatte, sah es aus wie ein PCSpiel. Ich fragte mich, ob das was bringt.“Als sie sich jedoch dem Geländer der Aussichtsp­lattform näherte, setzt die Angst ein.

„Das Hirn verarbeite­t die Situation genau so wie in der Realität. Die Patienten zeigen Verhaltens­hemmungen und physiologi­sche Reaktionen. Selbst wenn das Szenario nicht völlig täuschend echt wirkt,“weiß Mühlberger, der seit 20 Jahren auf diesem Feld forscht. Möglich macht das der Bildschirm im abgedunkel­ten Headset. „Jedes Auge sieht ein anderes Bild. So wird Tiefenwahr­nehmung erzeugt. Die sogenannte stereoskop­ische Sicht.“Die Sensoren der Cyberbrill­e reagieren auf jede Kopfbewegu­ng, der Patient hat eine 360-Grad-Sicht und das Gefühl, sich frei im virtuellen Raum zu bewegen. Das führt manchmal auch zu Nebenwirku­ngen. „Wenn das Bild nicht schnell genug nachgeführ­t wird, kommt es zur Cybersickn­ess – das ist wie eine Art Reisekrank­heit, aber gut in den Griff zu bekommen.“Um die emotionale­n Netzwerke noch besser anzustoßen, versuchen der Professor und sein Team alle Sinne anzusprech­en. Durch einen Windstoß,

Vogelgezwi­tscher, Gerüche.

Wichtig sei es, eine Situation auszuwähle­n, die der Patient bewältigen kann. „Meine Aufgabe ist es zu schauen, dass der Patient dabeibleib­t, die Angst bewusst erlebt und merkt, wie sie wieder weggeht – ohne dass ich etwas mache.“Die schlimmste­n Befürchtun­gen treten nicht ein – das sei die entscheide­nde Erfahrung.

Doch wie kommt es überhaupt zu panischer Angst? Das versuchen Mühlberger und seine Kollegen in Vorgespräc­hen herauszufi­nden. „Es gibt verschiede­ne Theorien für die Ursachen“, sagt Mühlberger. Oft entwickelt­en sich Phobien schon sehr früh. Durch Modell-Lernen beispielsw­eise. Wenn die Mutter ein Problem mit engen Räumen hat, schaut sich das Kind dies ab. Auch eine unangenehm­e Erfahrung mit einem Hund oder beim Zahnarzt kann Auslöser sein“, erklärt der Professor.

Bei Höhe und Wasser wird eine angeborene Angst vermutet, die es im Laufe der Entwicklun­g zu verlernen gilt. „Kinder, die mal vom Baum gefallen sind, haben eher keine Phobien“, sagt der 47-Jährige. Dass viele sich vor Spinnen oder Schlangen fürchten, ist übrigens evolutions­biologisch bedingt. „Es ist noch immer in unserem Gehirn gespeicher­t, dass sie giftig sein könnten. Darum hat auch kaum einer Angst vor Steckdosen, obwohl man sich da einen Stromschla­g holen kann.“

Auch wenn sich die Patienten in der virtuellen Realität wacker schlagen – um den Test im wahren Leben kommt keiner herum. „Die meisten sind total motiviert, das Gelernte auch umzusetzen. Sich immer wieder zu konfrontie­ren ist wichtig, sonst kann die Angst wieder stärker werden“, weiß Mühlberger. Nicole Vehring hat nach ihrer Therapie jedenfalls nur einen Wunsch: „Ich wollte auf die echte Aussichtsp­lattform.“Sie hat es geschafft. „Ich hatte zwar ein Kribbeln im Bauch, aber nicht vor Angst, sondern vor Glück.“

’’ Das Hirn verarbeite­t die Situation genau so wie in der Realität. Professor Andreas Mühlberger von der Universitä­t Regensburg hilft Patienten mit Hightech ihre Phobien zu überwinden

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FOTO: HANS RUDOLF SCHULZ Wer Höhenangst hat, muss oft hohe Hemmschwel­len überwinden, wenn er auf Brücken oder Türme steigen soll. In der virtuellen Welt und in Begleitung von Professor Andreas Mühlberger gelingt es besser und leichter, sich mit seiner Angst zu konfrontie­ren.
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FOTO: COLOURBOX Der Anblick von Spinnen löst bei vielen Angst oder zumindest Ekel aus.

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