Das Ende der Ära Raichlebeck
Gastwirt Christoph Böck hat sich in 35 Jahren Ruf als Unikum geschaffen.
LINDAU - Für den bekannten Klavierkabarettist Armin Fischer gab es bisher zwei real existierende Punkte in Deutschland: den Kölner Dom und den Raichlebeck auf der Lindauer Insel. Das ist nun vorbei, und Fischer muss nach eigenen Worten nun erst einmal nach Köln fahren, um sich zu vergewissern, ob wenigstens der Kölner Dom noch steht. Warum? Der Raichlebeck hat geschlossen, und zwar für immer.
Randvolle Weingläser
In den 35 Jahren Gastwirt hat sich Christoph Böck einen Ruf als Unikum geschaffen. Zusammen mit seiner Hermine hat er eine Gastwirtschaft betrieben, die bei den einen für hervorragende heimische Küche stand, für andere indiskutabel war. Ein Wirt, der nicht jeden als Gast akzeptierte, dafür sorgten die „Reserviert“-Schilder auf den Tischen und die Gesichtskontrolle. Ein Wirt, der – wohl einzigartig in der Gastroszene – die Weingläser bis an die Grenze der Oberflächenspannung des Rebensaftes füllte und gerne zuschaute, wie der Gast sich damit abmühte, das Glas zum Munde zu führen und sich schließlich herunterneigte, um den ersten Schluck zu sich zu nehmen. Sein Kommentar dazu war stets: „Ich liebe es, wenn sich die Gäste in Demut vor mir verneigen!“
Also bierernst ging es in der Gaststube der Böcks eigentlich nie zu. Christoph unterhielt die Gäste mit seinen trockenen Sprüchen und Kommentaren, empfahl meist die kleinere Portion zu nehmen, übrigens zu Recht, während Hermine unauffällig, aber mit enormen Fleiß in der Küche werkelte. Drei Jahre, nachdem der gelernte Gärtner Christoph seinen Traum vom Wirtshaus umzusetzen begann, gab sie ihre Stelle als Krankenschwester im „Eli“auf, um fortan die Küche zu übernehmen.
Am Anfang war’s ein „Rentnerpuff “
Leicht war der Beginn nicht, denn vorher war hier mehr oder weniger eine Spelunke, eine verruchte Trinkerkneipe und ein „Rentnerpuff“, wie Böck das beschreibt. Den Altersdurchschnitt des damaligen Publikums schätzt er auf 80 Jahre. Drei Jahre dauerte es, bis die weg waren. „Die bekamen nach dem zweiten Viertele nur noch Wasser“, verrät er, denn er wollte hier ein ordentliches Speiselokal mit heimischer Kost einrichten.
Eine Kleinanzeige für „Kässpätzle im Raichlebeck“im Wochenblatt brachte ihn in der Anfangszeit gleich an die Grenzen seiner Kapazitäten, denn das Lokal war anderntags rappelvoll und alle wollten Kässpätzle. „Aber keiner hatte sich beschwert, weder über die Wartezeit noch über das Essen“, erinnert er sich. Da stand er noch allein in der Wirtschaft. Auch wenig später gab es keine Beschwerden, als Schnitzel mit Pommes aus der Karte flogen. Auslöser war eine gesamte Busgesellschaft aus Holland, die alle Schnitzel mit Pommes geordert hatten und sämtliche verfügbare Töpfe mit heißem Fett die Fritteuse unterstützen mussten, um des Ganzen halbwegs Herr zu werden. Noch am selben Abend verschwand das Angebot für immer von der Karte, ohne Beschwerden.
Als nach eineinhalb Jahren die Spülmaschine und andere Küchengeräte ihren Geist aufgaben, wollte Christoph schon aufgeben. Durch Zufall landete er in Augsburg bei einem Seminar zum Thema „Wareneinsatz in der Küche“. Daraus entstand eine Beziehung zu Willy Ost, der in Augsburg die „Sieben-Schwaben-Stuben“betrieb und der ihn für ein paar Tage in seine Küche „zum Spionieren“einlud, ebenso dessen Metzger. Konsequenz aus dieser Spionageaffäre war, die Küche umzustellen und weiterzumachen. „Den Wareneinsatz habe ich dadurch deutlich nach unten gebracht“, erzählt er rückblickend.
Auch die Hintergrundmusik war im Raichlebeck legendär: klassische Musik. Man konnte also seine Spinatspätzle zu Verdis „La Traviata“gereicht bekommen oder zu einer Mozart-Sinfonie, je nachdem. Das Stammpublikum liebte das und fragte oft nach den CDs. Mit der Folge, dass der Raichlebeck zwischen 1994 und 2001 Lindaus einzige Adresse für Klassik-CD war. Auch Lindaus Kulturbetrieb entdeckte den Raichlebeck für sich. Viele Jahre kamen Musiker und Schauspieler nach ihren Auftritten im Stadttheater zu Hermine und Christoph, um hier zu essen und auch zu feiern. „Wirtschaftlich hat sich das nie gelohnt, es gab dem Haus aber Flair“. Flair, das Armin Fischer zum 20jährigen Bestehen des Raichlebecks in Versform beschrieb: „Große kulturelle Namen – Die’s zum Raichlebeck oft lenkt – Finden würdig hier den Rahmen – Denn sie werden aufgehängt“. Und an anderer Stelle in diesem Lobestraktat über das Lindauer Lokal schrieb er treffend: „Kinder und FamilienlebenGleich ist man Besuch statt Gast – Eilfertiges Umsatzstreben – Hätte nie dazu gepasst“.
Der Umsatz jedenfalls ist nicht der Grund, warum Hermine und Christoph nun die Pforte des Raichlebecks geschlossen haben, vielmehr sind es sein Erreichen des Rentenalters und „eine Fülle von EU-Verordnungen, die es einer kleinen Gastronomie wie unserer fast unmöglich machen, existieren zu können“, wie Christoph Böck es formuliert.
Was machen nun seine Stammgäste? Die müssen sich ein neues Wohnzimmer suchen, können aber irgendwie verstehen, dass die Ära Raichlebeck zu Ende ist. Stammtische hatten die Böcks nie, „Ansätze dazu haben ich immer erfolgreich unterbunden“. Denn schon Willy Ost hatte ihm dies empfohlen: Stammgäste ja, Stammtische nein, denn mit denen habe man auf Dauer keinen Spaß.
Den aber hatten all die Stammgäste des Raichlebecks, wie Werner Konrad, der jahrelang in die Tasten des Klaviers griff, oder Armin Fischer, der lieber an diesem real existierenden Platz in Deutschland war und nicht im Kölner Dom.