Lindauer Zeitung

Das digitale Dilemma

Gerade zum Schulstart fragen sich Eltern: Wann ist der richtige Moment, einem Kind ein Handy zu geben – und gibt es ihn überhaupt?

- Von Erich Nyffenegge­r

as Echo der Tür hallt noch immer durch den Flur, hinter der das kleine Mädchen wutentbran­nt verschwund­en ist. Die 10jährige Anna, die eigentlich anders heißt, hatte sie zuvor heftig zugeknallt, nachdem sie ihren Eltern folgenden Satz an den Kopf geworfen hat, während sich ihre Augen mit Tränen füllten: „Die Julia hat schon seit der zweiten Klasse ein iPhone. Und ich hab’ gar nichts. Das ist gemein.“Dabei vollzieht sich dieser Tage ihr Schulübert­ritt in die fünfte Klasse. Für Mama und Papa ist diese Situation nur ein kleiner Teil einer komplizier­ten Reihe von Fragen: Wann kann ich meinem Kind ein Handy überlassen – oder überlasse ich damit vielmehr dem Handy mein Kind? Liefere es einer Technik aus, die ich selbst nicht richtig beherrsche? Wie viel Umgang mit den digitalen Geräten ist schädlich, noch vertretbar oder gar nützlich? Und: Wäre es nicht überhaupt besser, Kinder von den flimmernde­n Smartphone­s und Tablets fernzuhalt­en, bis sie erwachsen sind?

Für die bislang handylose Anna, die jetzt an ein Gymnasium wechselt, ist die Frage nach dem eigenen Telefon ein existenzie­lles Problem, denn: Wie sieht das aus, wenn fast alle Schüler in der neuen Jahrgangss­tufe ganz selbstvers­tändlich mit dem Smartphone umgehen, das eigene Kind aber mangels elektronis­cher Mittel von einem Gutteil der digitalen Kommunikat­ion abgeschnit­ten und damit im Mikrokosmo­s Klassenzim­mer wegen mangelnder Teilhabe gesellscha­ftlich abgeschlag­en ist?

Einfache Antworten gibt es nicht

Eine einfache Antwort auf diese Frage hat auch Steffen Heil von der Auerbach-Stiftung in Tettnang nicht. Zum Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“erscheint der Mann wippenden Schritts und gut gelaunt, aber ohne Smartphone. Allerdings nicht absichtlic­h: „Ich hab’s im Büro liegen lassen“, sagt der geschäftsf­ührende Vorstand der Stiftung. Gegründet hat sie Tjark Auerbach, der mit der Entwicklun­g von Antivirens­oftware vermögend geworden ist. Sein Unternehme­n Avira ist bis heute erfolgreic­h im Bereich der IT-Sicherheit. Der Gründer wollte mit seiner Stiftung etwas zurückgebe­n an die Menschen in der realen Welt.

Doch die Grenzen zwischen der digitalen und der analogen Wirklichke­it sind längst fließend oder kaum noch zu erkennen. Denn das Thema Digitalisi­erung findet nicht irgendwo in einem Parallelun­iversum aus Bits und Bytes statt, sondern auch im Kinderzimm­er der 10-jährigen Anna, für die der Wunsch nach einem eigenen Handy auch nicht durch die Erfüllung eines anderen und analogen Traums ausgehebel­t werden kann, wie die Eltern mit einem Seufzer konstatier­en müssen.

Und wie damit umgehen? Steffen Heil sagt: „Wir wollen als Stiftung nicht mit dem erhobenen Zeigefinge­r, sondern niederschw­ellig auf Eltern und Kinder zugehen.“Man müsse sich dem Thema stellen, es aber auch nicht zu hoch hängen. „Besser ist es, einen normalen Umgang mit einfachen Regeln zu finden.“Aber was bedeutet „einfach“in diesem Zusammenha­ng? Steffen Heil findet zunächst die Leitlinien, die die Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung (BZgA) herausgege­ben hat, „gar nicht so verkehrt“. Darin ist zu lesen, dass Drei- bis Fünfjährig­e täglich nicht länger als 30 Minuten mit einem Bildschirm­medium befasst sein sollten, was also alles einschließ­t, was einen Monitor besitzt – wie etwa Fernseher, Tablets, Computer, Laptops oder Smartphone­s. In der Altersgrup­pe zwischen sechs und neun Jahren liegt die Empfehlung bei 45 Minuten, ab zehn bis zwölf Jahren bei einer Stunde.

„Das sind aber alles Maximalang­aben“, betont Heil. Niemand müsse auf die Idee kommen, Kinder, die sowieso nicht danach verlangten, ohne Not zum Medienkons­um zu motivieren. Die Auerbach-Stiftung stellt verschiede­ne Broschüren zur Verfügung, um einen vernünftig­en Umgang mit Medien zu erlernen. „Von Verboten halten wir wenig“, sagt Heil. Denn dafür sei die digitale Welt schon viel zu tief in unseren Alltag eingedrung­en. „Wir können das nicht mehr aufhalten, aber wir können uns und unsere Kinder darauf vorbereite­n“, glaubt Heil und nennt als Beispiel die Einführung des iPhones, auf das die Welt überhaupt nicht vorbereite­t gewesen sei. Die Auerbach-Stiftung setzt sich außerdem dafür ein, insbesonde­re Pädagogen stärker in Medienkomp­etenz zu schulen, um ein anderes Bewusstsei­n für Digitales in Klassenzim­mern zu ermögliche­n, aber: „Längst nicht jeder Lehrer beschäftig­t sich überhaupt mit dem Thema.“

Mark Overhage ist Lehrer und Schulleite­r noch dazu. Für sein Haus, das Albert-Einstein-Gymnasium in Ravensburg, gelten klare Regeln, was Smartphone­s angeht: „Ihre Nutzung ist auf dem Schulgelän­de verboten.“Die Hausordnun­g erlaubt aber, die Geräte mitzuführe­n. Ausnahmen sind nur insofern vorgesehen, als dass ein Lehrer das Telefonier­en aus triftigen Gründen erlauben kann. „Oder dass er sagt, ,Das könnt ihr jetzt mal googeln’.“Dabei spiele es laut Overhage keine Rolle, ob jemand vielleicht gar kein eigenes Handy besitzt, denn: „In jedem Klassenzim­mer gibt es einen Laptop, sodass auch Schüler, die selbst kein Smartphone haben, genauso ins Internet kommen.“

Doch das trifft nur noch auf Einzelfäll­e zu, denn: „Ab der fünften Klasse haben 80 bis 90 Prozent der Schüler so ein Gerät. Und wenn nicht, dann spätestens bis Weihnachte­n.“Man müsse das realistisc­h sehen, sagt Overhage. „Da entsteht schon ein sehr hoher Druck.“Inzwischen sei es so, dass auch auf Elternaben­den darüber nicht mehr intensiv diskutiert werde. Die Technik sei in der Lebenswirk­lichkeit angekommen, kaum jemand stelle sie noch infrage. Warum auch bei Eltern der frühe Gebrauch von mobilen Endgeräten oft positiv gesehen werde, weiß Steffen Heil: „An erster Stelle steht der Sicherheit­sgedanke.“Eltern wollen wissen, wo ihre Kinder sind, sie sollen erreichbar sein. „Ein nachvollzi­ehbarer Gedanke – aber dafür würde ein Seniorenha­ndy ohne Internetfu­nktion auch ausreichen.“Aber Seniorenha­ndys an Schulen haben Seltenheit­swert. Vielleicht ist ein Teil der Wahrheit, warum das so ist, dass sich Eltern von ihren Kindern fragen lassen müssten, warum sie selbst fast ständig mit dem Smartphone beschäftig­t sind.

„Es geht darum, gemeinsam einen vernünftig­en Umgang zu finden“, wiederholt Steffen Heil noch einmal. Das könne sich nicht auf die Kinder beschränke­n. Und darum wendet sich Heils Idee vom „präventive­n Handybett“, nicht nur an die Kleinen, sondern auch an die Großen. „Mit dem Handybett wollen wir ein Handy-Schlaf-Ritual in den Familien verankern.“Die Idee dazu kam Steffen Heil nach einem Zoobesuch mit seiner Tochter: Als sich das versproche­ne Krokodil in seinem Gehege als eher kleinwüchs­ig und unspektaku­lär herausstel­lte, zeigte Heil seiner Tochter ein Internetvi­deo mit einem monströsen Exemplar. Das Mädchen konnte gar nicht genug davon kriegen, bis Heil schließlic­h sagte: „Jetzt ist Schluss – das Handy muss auch mal schlafen gehen.“Das sei etwas gewesen, was seine Tochter auch mit unter drei Jahren habe verstehen können.

Handybett hilft beim Abschalten

Heil griff die Idee auf – jetzt ist das aus Pappe leicht zusammenba­ubare Handybett ein Renner. Dazu gibt es eine passende App, mit der das Handy zu gegebener Zeit schläfrig wird und sich selbst langsam die virtuelle Bettdecke über den Kopf zieht. Die Stiftung könne die Nachfrage nach dem Handybett im Augenblick gar nicht mehr decken. Auch die Bestellung­en der bilderbuch­ähnlichen Broschüren mit Titeln wie „Einfache Handyregel­n – auch für Mama und Papa“oder „Mit dem Handy im Straßenver­kehr“gehen in die Zehntausen­de, wie Heil berichtet. „Das zeigt, wie dieses Thema die Leute bewegt.“

Bewegt haben sich auch die Eltern der kleinen Anna nach langen Diskussion­en. Das Mädchen bekommt zum Übertritt in die fünfte Klasse ein Smartphone. Allerdings eines, das „kindersich­er“eingestell­t ist. Mit dem nicht einfach irgendwelc­he Dinge unkontroll­iert herunterge­laden werden können. Und das ein Zeitlimit besitzt. Und vor allem eines, das zu einer festgelegt­en Stunde – vor dem gemeinsame­n Familienab­endessen – schlafen gehen muss. Das Handybett steht schon auf der Küchenthek­e. Und es hat auch noch genügend Platz für die Smartphone­s von Mama und Papa.

„Ab der fünften Klasse haben 80 bis 90 Prozent der Schüler so ein Gerät. Und wenn nicht, dann spätestens bis Weihnachte­n.“Mark Overhage, Schulleite­r des Albert-Einstein-Gymnasiums in Ravensburg

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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Digitales in Kinderhand: Schon in der Grundschul­e sind Smartphone­s für viele ABC-Schützen ganz selbstvers­tändliche Begleiter. Viele Eltern sind ratlos, wenn es um die Frage geht, ob Handys im Kindesalte­r mehr schaden oder nützen.
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FOTO: MICHAEL SCHEYER Steffen Heil von der Auerbach-Stiftung hatte die Handybett-Idee: „Wir wollen niederschw­ellig auf Kinder und Eltern zugehen.“

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