Lindauer Zeitung

Wenn Helfer im Notfall nicht durchkomme­n

„Rettungsga­sse ist kein Straßennam­e“: Sanitäter berichtet über seine Erfahrunge­n

- Von Carolin Scholz

ERKELENZ (dpa) - Wenn Jörg Nießen Blaulicht und Martinshor­n am Rettungswa­gen einschalte­t, muss es meist schnell gehen. Dann sind etwa Autos zusammenge­kracht und Menschen verletzt worden. Nießen ist Rettungssa­nitäter und Feuerwehrm­ann in Köln. Gerade bei Unfällen auf der Autobahn erlebt er immer wieder, dass Verkehrste­ilnehmer keine Rettungsga­sse bilden und den Einsatz der Helfer behindern. In seinem Buch „Rettungsga­sse ist kein Straßennam­e“erzählt Nießen von seinen Erfahrunge­n.

Ein bisschen Verständni­s hat Nießen ja schon. Für die, die neugierig gucken zum Beispiel. „Neugierde ist in der Natur des Menschen“, sagt der Rheinlände­r. Klar wolle man wissen, was da vor sich gehe und warum man im Stau steht. Doch Nießens Verständni­s hört auf, wenn er dadurch von seiner Arbeit abgehalten wird. Denn bei einem Unfall können wenige Augenblick­e über Leben und Tod entscheide­n. Ist jemand schwer verletzt im Auto eingeklemm­t und muss sofort versorgt werden? Oder hält das Opfer noch durch? Um das einschätze­n zu können, müsse er erst einmal vor Ort sein, sagt der Notfallsan­itäter. Daran denken viele nicht.

Dass Autofahrer­n zunehmend bewusst wird, wie wichtig eine Rethalten, tungsgasse im Notfall sein kann, den Eindruck hat Nießen schon. „Dass die Brücken mit Bannern und Hinweisen tapeziert sind, hilft wohl langsam.“Dennoch: Über rücksichts­lose Autofahrer ärgert er sich immer wieder.

Manche fahren hinterher

„Radikal egoistisch“nennt Professor Rainer Banse so ein Verhalten. Der Sozialpsyc­hologe an der Uni Bonn befasst sich mit Verkehrsps­ychologie. Kampagnen, die die Polizei zu diesem Thema fährt, seien unbedingt nötig, sagt Banse. Sicher gebe es Verkehrste­ilnehmer, die aus Unwissenhe­it handelten. „Bei manchen ist die Fahrschule lange her, oder es wurde zu dieser Zeit noch anders gehandhabt“, sagt er. Doch gebe es auch einige, die nicht ausweichen wollen, sogar den Rettungskr­äften hinterherf­ahren, um Zeit zu sparen.

„Da gibt es Menschen, die geradezu empört sind, dass sie im Stau stehen und warten müssen“, sagt Banse. Die eigenen Interessen rücken in den Vordergrun­d – und wollen mit aller Kraft durchgeset­zt werden. „Da muss eine soziale Norm geschaffen und durchgeset­zt werden“, fordert der Experte. Etwa indem andere Autofahrer dem Verkehrsrü­pel zeigen, dass er sich falsch verhält – durch Hupen oder andere Hinweise. Zum anderen müsse ein solches Fehlver- das nicht nur ärgerlich, sondern oftmals auch gefährlich sei, bestraft werden.

Im Frühjahr hat die Polizei aufgerüste­t: Seit April sind in NordrheinW­estfalen 50 sogenannte Dashcams im Einsatz. Damit können die Beamten Verstöße „beweissich­er dokumentie­ren“, wie es heißt. Bei einer Alarmfahrt werde die Kamera eingeschal­tet – wer den Platz nicht freimacht, wird aufgenomme­n und bekommt Post.

Die Rettungsga­sse auf der Straße ist nicht das Einzige, das Nießen in seinem Buch beschreibt. „Brandlast im Treppenhau­s“nennen es Fachleute – oder wie Nießen sagt: Die Rettungsga­sse der anderen Art. „Bücherrega­l, Wandschran­k, Kinderwage­n, Winterreif­en – habe ich alles schon gesehen.“Auch das erschwere es den Sanitätern, dorthin zu gelangen, wo sie gebraucht werden. Oder dass bei einer Reanimatio­n im Restaurant an den Nebentisch­en weiter serviert und gespeist wird. „Wir brauchen bei der Arbeit einfach Platz. Aber wenn wir dann barsch werden, ernten wir auch noch verständni­slose Blicke.“

Dennoch will Nießen nicht, dass sein Buch als erhobener Zeigefinge­r verstanden wird. Die erzählten Geschichte­n seien nicht der Arbeitsall­tag. „Eher die Spitze des Eisbergs aus dem Blaulichtm­ilieu.“

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FOTO: DPA Rettungswa­gen brauchen Platz, den haben sie nicht immer.

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