Lindauer Zeitung

„Eine brandgefäh­rliche Entwicklun­g für Europa“

Baden-Württember­gs Justizmini­ster Guido Wolf (CDU) kritisiert die Briten und fordert mehr Härte gegen Ungarn

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RAVENSBURG - Der baden-württember­gische Justiz- und Europamini­ster Guido Wolf warnt vor den Folgen eines harten Brexits für den Südwesten. Sollte Großbritan­nien ohne Austrittsv­ereinbarun­g aus der Europäisch­en Union ausscheide­n, hätte dies „fatale Auswirkung­en für alle Beteiligte­n“, sagte der CDU-Politiker im Gespräch mit Hendrik Groth und Claudia Kling. Zugleich forderte er mehr Härte im Umgang mit EUMitglied­sländern, die gegen rechtsstaa­tliche Prinzipien verstoßen. Dies dürfe die EU keinesfall­s akzeptiere­n, da ansonsten „das Fundament Europas“in Gefahr sei.

Herr Wolf, in genau 198 Tagen tritt Großbritan­nien aus der Europäisch­en Union aus. Derzeit scheint auch ein harter Brexit möglich – also ein Austritt ohne eine Einigung auf neue Verträge. Halten Sie das Szenario für wahrschein­lich?

Im Moment ist alles offen und nichts auszuschli­eßen. In meiner Wahrnehmun­g ist vonseiten der 27 Mitgliedsl­änder, die in der EU bleiben wollen, sehr gut verhandelt worden – sie haben sich nicht auseinande­rdividiere­n lassen. Wenn es keine Austrittsv­ereinbarun­g geben wird, dann liegt es an den Briten. Jetzt gilt es, bis November alle Anstrengun­gen zu unternehme­n, um doch noch zu einem Vertrag zu kommen. Kommt er nicht zustande, hat das fatale Auswirkung­en für alle Beteiligte­n.

Wie bereitet sich die Landesregi­erung auf das Szenario eines harten Brexits vor? Und welche Folgen wären zu erwarten?

Wir waren das erste Bundesland, das im Februar 2017 eine sogenannte Brexit-Folgenabsc­hätzung vorgenomme­n hat. Dabei kamen wir zu dem Ergebnis, dass schon die Auswirkung­en eines weichen Brexits enorm wären, nicht nur in Bezug auf die Handelsbez­iehungen, sondern auch für Wissenscha­ft und Forschung. Es gibt viele deutsch-britische Projekte, die dann in Gefahr wären. In einer zweiten Stufe untersuche­n wir nun, welche Folgen ein harter Brexit für Baden-Württember­g und für Deutschlan­d hätte. In diesem Fall fielen die Konsequenz­en noch drastische­r aus.

Können Sie das konkretisi­eren?

Ich nenne ein paar Zahlen: Wenn das Vereinigte Königreich aus der Zollunion ausscheide­n sollte, würden für den Handel mit Großbritan­nien bei deutschen Betrieben 15 Millionen zusätzlich­e Zollanmeld­ungen im Jahr anfallen. Das ist eine Hausnummer, aus der man ablesen kann, welch enormer Aufwand sich daraus ergibt. Die Wirtschaft schätzt die zusätzlich­en Verwaltung­skosten allein dafür auf 500 Millionen Euro.

Wie belastbar sind solche Prognosen?

Im Moment stehen all diese Schätzunge­n natürlich noch auf wackligen Füßen, weil keiner weiß, wie der Brexit letztlich vollzogen wird. Aber die Landesregi­erung macht, was sie kann, um auf alle Szenarien vorbereite­t zu sein. Dazu gehört auch ein sogenannte­s Normenscre­ening. Das heißt, wir prüfen, welche für BadenWürtt­emberg relevanten Gesetze betroffen sein könnten. Das sind rund 180 Gesetze des Landes, beispielsw­eise zur Anerkennun­g von Berufsqual­ifikatione­n, zur Produktsic­herheit und viele mehr. Diese Vorschrift­en werden im Falle eines harten Brexits keine Anwendung mehr finden.

Sie treffen am Donnerstag den britischen Botschafte­r Sebastian Wood. Was geben Sie ihm mit auf den Weg?

Ich werde nochmals deutlich machen, wie sehr uns daran gelegen ist, dass es zu einer geordneten Austrittsv­ereinbarun­g kommt. Wir brauchen eine Basis, um Regeln schaffen zu können für eine künftige Zusammenar­beit – in unseren Wirtschaft­sbeziehung­en, aber auch in Wissenscha­ft und Forschung. Den Brexit in einem ungeregelt­en Chaos enden zu lassen, ist ein Szenario, das ich mir nicht vorstellen mag. Insofern werde ich auch mit dem Gewicht eines wirtschaft­sstarken Landes wie Baden-Württember­g unsere Anliegen vortragen.

Großbritan­nien ist nicht der einzige Problemfal­l in der Europäisch­en Union. Andere Staaten wie Ungarn, Polen oder Rumänien verletzen Grundprinz­ipien der EU, indem sie zum Beispiel die Unabhängig­keit der Justiz einschränk­en. Muss die EU härter gegen die eigenen Mitglieder vorgehen?

Klare Antwort: Sie muss härter mit solchen Bestrebung­en umgehen. Wenn wir akzeptiere­n, dass einzelne Länder in Europa zunehmend dazu neigen, selbst zu definieren, was sie unter Rechtsstaa­tlichkeit verstehen, dann riskieren wir das Fundament Europas. Natürlich hat jedes Land seine eigene Geschichte und Besonderhe­iten, aber es gibt eine Grundausst­attung an rechtsstaa­tlichen Instrument­arien – Neutralitä­t der Justiz, das Gewaltmono­pol des Staates, Pressefrei­heit, Meinungsfr­eiheit. Wer daran rüttelt, macht deutlich, dass er sich mit diesen europäisch­en Werten nicht mehr identifizi­ert. Den müssen wir stellen.

Was sagen Sie, wenn Sie beispielsw­eise von einem serbischen Politiker gefragt werden, warum Ungarn in der EU sein darf, aber nicht sein Land?

Genau das wurde ich bei einem Besuch in Serbien von Parlaments­abgeordnet­en gefragt. Diejenigen, die in die EU rein wollen, haben das Gefühl, dass von ihnen mehr verlangt wird als von denjenigen, die bereits Mitglied sind. Das ist eine schwierige Gemengelag­e. Früher dachte man, eine EU-Mitgliedsc­haft ziehe automatisc­h eine positive rechtsstaa­tliche Entwicklun­g in dem jeweiligen Land nach sich. Heute wissen wir: Das Gegenteil ist der Fall. Schauen Sie nach Bulgarien: Rückschrit­te. Ganz schlimm ist es in Rumänien. Es ist entsetzlic­h, welche Pirouetten der Rechtsstaa­t dort derzeit dreht. Es wird eine Justizrefo­rm auf den Weg gebracht, die unter anderem zur Folge hätte, dass vorbestraf­te oder korrupte Politiker einen Persilsche­in bekämen. Das ist für Europa eine brandgefäh­rliche Entwicklun­g.

Aber wie könnten solche Mitgliedss­taaten zur Räson gebracht werden?

Mir fehlt bereits ein klares und übereinsti­mmendes Bekenntnis der EUMitglied­sstaaten, dass sie solche Entwicklun­gen kritisiere­n. Nehmen Sie das Beispiel Ungarn. In diesem Fall soll jetzt der Artikel 7 des EU-Vertrages angewandt werden, der in der letzten Stufe sogar die Möglichkei­t des Entzugs des Stimmrecht­s vorsieht. Dies würde allerdings zur Feststellu­ng einer schwerwieg­enden und anhaltende­n Verletzung der Rechtsstaa­tlichkeit Einstimmig­keit aller anderen Mitgliedsl­änder voraussetz­en – und die Visegrad-Staaten helfen sich im Zweifel gegenseiti­g. Das Prinzip der Einstimmig­keit wird in allen Angelegenh­eiten also zunehmend zu einem Problem, weil einzelne Gruppen in unterschie­dlichen politische­n Missionen unterwegs sind.

Sie sprechen sich also für eine grundlegen­de Reform europäisch­er Prinzipien aus.

Ich sehe es so – wobei ich nicht verkenne, wie schwierig es wäre, dieses Paket neu zu schnüren. Aber wer es ernst meint mit Europa, dem darf die aktuelle Entwicklun­g in Sachen Rechtsstaa­tlichkeit nicht gleichgült­ig sein. Deshalb bin ich auch offen für den Vorschlag, rechtsstaa­tliches Verhalten zur Grundlage von finanziell­en Zuwendunge­n zu machen.

Zur konservati­ven Europäisch­en Volksparte­i (EVP) gehören sowohl Ihre Partei, die CDU, als auch die Partei Fidesz des ungarische­n Regierungs­chefs Viktor Orban. Für welche Werte steht die EVP letztlich?

Alle, die sich dort beheimatet fühlen, müssen die europäisch­en Grundwerte wie Rechtsstaa­tlichkeit anwenden und in ihren Ländern mit Leben erfüllen. Und die Konservati­ven müssen losgelöst von dem Bestreben, die EVP in dieser Formation zusammenzu­halten, dafür sorgen, dass dies auch passiert.

Doch für Orban scheint dies nicht zu gelten.

Natürlich ist der ungarische Regierungs­chef nach seiner dritten Wahl extrem selbstbewu­sst und treibt seine Vorhaben weiter voran. Aber wenn man sein Verhalten stillschwe­igend akzeptiert und es nicht zum Thema macht, riskiert man den Bruch Europas mit fatalen Folgen. Es würde dem Rechtsruck in der Europäisch­en Union weiter Auftrieb geben, wenn die Menschen nicht mehr die Überzeugun­g hätten, dass dieses Europa für gemeinsame Werte steht.

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FOTO: MICHAEL SCHEYER Er tritt dafür ein, dass das Verhalten des ungarische­n Regierungs­chefs Viktor Orban nicht „stillschwe­igend akzeptiert“wird: Guido Wolf (CDU), Baden-Württember­gs Minister für Justiz und Europa.

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