Lindauer Zeitung

Rüdiger bringt selbst italienisc­he Schulkinde­r zum Schweigen

Die Grotta Gigante bei Triest ist eine Schauhöhle und steckt voller Superlativ­e

- Von Alexandra Stahl

(dpa) - Tropfstein­höhlen gibt es viele in Süddeutsch­land. Warum dann eine in Italien besuchen? Weil im Karstgebir­ge bei Triest die größte Schauhöhle der Welt liegt. In der Grotta Gigante verstummt sogar eine italienisc­he Schulklass­e.

Viel Werbung gibt es nicht für eine der größten Höhlen der Welt. In den Bergen rund 20 Minuten von Triest entfernt, in der Nähe des Ortes Sgonico, verrät ein kleines Straßensch­ild, wohin man laufen muss, wenn man die Grotta Gigante besichtige­n will. Der Busfahrer brummt nur ein „Sì“auf die Frage, ob man an der verlassene­n Straße aussteigen müsse. Und von der Höhle ist auch nichts zu sehen, obwohl sie die größte Schauhöhle der Welt ist. Aber sie liegt ja unter der Erde.

Elf Grad kalt

Das Volumen der großen Halle in der Grotte beträgt 600 000 Kubikmeter, 107 Meter misst sie am höchsten Punkt, 65 Meter ist sie breit, 130 Meter lang: Damit hat es die Grotta Gigante 1995 als größte Schauhöhle der Welt ins „Guiness-Buch der Rekorde“geschafft. Wirklich vorstellen kann man sich die Ausmaße nicht. Dafür muss man hinab. Der Eingang zur Grotte sieht nach Museum aus, und tatsächlic­h folgt nach der Kasse ein zweistöcki­ger Raum, in dem die Geschichte der Grotte erklärt wird. Die Besucher warten in einem weiteren Raum, der an ein FlughafenG­ate erinnert. Nur elf Grad habe es in Macht ihrem Namen alle Ehre: die Grotta Gigante bei Triest ist die größte Schauhöhle der Welt.

der Grotte, warnt ein Schild. Bald öffnet sich die Automatikt­ür, und die Besucher passieren ein Drehkreuz, das sie zum Höhleneing­ang führt.

„Keine Fotos während des Abstiegs machen!“, mahnt Führerin Federica Papi. Nicht weil fotografie­ren verboten wäre, sondern weil es zu gefährlich ist. Die Treppen sind steil. Wer den Blick aufs Kameradisp­lay richtet, kann ausrutsche­n. Die Gruppe hört auf Papi. Ohnehin sind alle merkwürdig still beim Eintritt in die Höhle. Selbst die quirlige italienisc­he Schulklass­e verstummt, als hätte sie das Tor zu einer fremden Welt betreten, von der nicht ganz klar ist, wie man sich in ihr verhalten darf.

Lichter erhellen die Treppenstu­fen und die Wände, deren verwachsen­e Oberfläche an Hunderte Schichten Kerzenwach­s erinnert. Das Ausmaß der Höhle ist auf den ersten paar Metern schwer auszumache­n, es geht vor allem nach unten, und die Grotte ist sehr verwinkelt.

„Das Gehirn kann die Dimension nicht erfassen“, sagt Papi, die Höhlen-Biologin ist. Sie und fünf Kollegen führen das ganze Jahr durch die Grotte. 2017 kamen 100 004 Besucher – Rekord. Manche unterschät­zten die Tiefe, erzählt Papi. 500 Stufen geht es runter, bis man am tiefsten Punkt ist und auf die Haupthalle blickt. „Und manche haben auch Angst.“Tatsächlic­h hat die Höhle etwas Unheimlich­es. Man denkt an Harry-Potter-Filme oder ein Fantasy-Videospiel. In jedem Fall würde es einen kein bisschen wundern, wenn unten auf dem Boden ein dicker, alter Drache wartete.

„Das hier ist einfach das Werk der Natur“, ruft Papi begeistert. Immer wieder legt die 40-jährige Italieneri­n Pausen ein, um den Besuchern die Höhle zu erklären, die vor zehn Millionen Jahren entstanden ist. Die Menschheit weiß dagegen erst seit kurzem von ihr: 1840 wurde sie entdeckt, als im Karstgebir­ge neue Wasserquel­len

für Triest gesucht wurden. Erst ab 1890 durchsucht­en Speläologe­n, Höhlenfors­cher, die Grotte. Seit 1908 ist die Grotta Gigante für Touristen zugänglich. Die Höhle ist eine von mehr als 6000 Grotten in der Region Friaul-Julisch Venetien, die zu den höhlenreic­hsten Gegenden Italiens zählt. Grund ist der Karst: Das Gebirge besteht aus Kalkund Dolomitste­in, der reich an Karbonat ist – und damit löslich bei Regenwasse­r. Die gigantisch­e Grotte ist aus zwei übereinand­er gelagerten Flussstoll­en entstanden. Dieses Wasser ist vor fünf Millionen Jahren aus der Grotte verschwund­en. Hereinsick­erndes Regenwasse­r veränderte schließlic­h über die Zeit das Innere.

„Was sind Stalagmite­n?“, fragt Papi der Schulklass­e zu, und fast alle Hände deuten nach unten. „Und Stalaktite­n?“Die Kinder zeigen auf die Decke. Vor allem unzählige Stalagmite­n, aus dem Boden gewachsene Tropfstein­e, sind in der Höhle zu sehen. Es sieht aus, als wären überall lange Pilze aus Stein gesprossen. Der größte Stalagmit ist zwölf Meter hoch und nennt sich Ruggero – deutsch: Rüdiger. Auch wenn man ihn minutenlan­g betrachtet, ist schwer vorstellba­r, dass er ein Produkt der Natur sein soll. Anderersei­ts hatte diese 150 000 Jahre Zeit, ihn zu formen.

Ständige Veränderun­g

„Schließt die Augen und hört die Stimme der Höhle an!“, ruft Papi. Mittlerwei­le ist die Gruppe am untersten Punkt angelangt. Die Kinder schließen artig die Augen, auch die Erwachsene­n lauschen. Es ist still, bis auf ein unregelmäß­iges Tropfen. Es klingt wie eine Dusche, die gerade jemand benutzt hat. Regenwasse­r verändert die Höhle weiter. Stalagmite­n, die noch wachsen, sind an ihrer weißen Oberfläche zu erkennen. Anfassen ist verboten – das Fett an den Händen würde den chemischen Prozess stoppen. Bis man erkennt, dass ein Stalagmit wieder ein kleines bisschen gewachsen ist, vergehen zehn bis 15 Jahre.

Die Zeit scheint in der Grotte stillzuste­hen. Seit Millionen Jahren herrscht die gleiche Temperatur, es gibt nie Wind, nie Regen. Von Menschenha­nd stammen nur Beleuchtun­g, Treppe, Mülleimer. Und die Technik. Forscher erkunden die Höhle immer noch, etwa die Lösungspro­zesse des Regenwasse­rs.

Nach 500 weiteren Stufen – diesmal bergauf – ist man wieder draußen in den ruhigen Bergen. Im Sonnenlich­t erscheint der Gedanke an die Höhle unwirklich. Ein Souvenirla­den verkauft Plastiksta­lagmiten, Miniatur-Ausgaben von Rüdiger. Doch sie sind gar nichts im Vergleich zum Original.

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FOTOS: DPA
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Die Grotta Gigante ist bis zu 107 Meter hoch.
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Höhlen-Biologin Federica Papi führt durch die Grotta Gigante.

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