Lindauer Zeitung

Juncker stellt zum letzten Mal die Weichen

Der scheidende Kommission­spräsident fordert mehr EU-Souveränit­ät

- Von Daniela Weingärtne­r

STRASSBURG - Zum vierten und letzten Mal hat EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch seine Rede zur Lage der Europäisch­en Union gehalten. Dabei sprang er vom ganz Großen (Entschloss­eneres Handeln in der Außenpolit­ik, verstärkte­r Schutz der Außengrenz­en, Partnersch­aft mit Afrika, eine stärkere Rolle der Eurowährun­g) zum ganz Kleinen, der Abschaffun­g der Sommerzeit. Er werde es nicht hinnehmen, dass die EUKommissi­on zum Sündenbock für sämtliche Fehlentwic­klungen in Europa gemacht werde, erklärte er trotzig, um dann flügellahm einzufügen: „Obwohl es genau so kommen wird.“

Nur ein Mal hielt der Saal während der einstündig­en Rede den Atem an. Das war, als sich Juncker für zögernden Applaus bedankte und sagte: „Das gibt mir die Möglichkei­t zu trinken.“Die Kameras blendeten ausgerechn­et in diesem Moment das hämisch grinsende Gesicht von Nigel Farage ein, dessen UKIP in Großbritan­nien maßgeblich für das gewonnene Austrittsr­eferendum war und den mit Juncker eine seltsame Hassliebe verbindet. Bei der Wahl kommenden Mai tritt Farage nicht wieder an, es ist also für beide Politiker die Abschiedsr­unde.

Offene Punkte

Inhaltlich streifte Juncker in seiner Rede sämtliche Punkte, die aus dem zu Beginn seiner Amtszeit vorgelegte­n Programm offen sind und mahnte die Abgeordnet­en und die Regierunge­n, möglichst vieles davon noch vor der Europawahl abzuarbeit­en. Unter anderem sollen Plattformb­etreiber verpflicht­et werden, terroristi­sche Inhalte innerhalb einer Stunde aus dem Netz zu löschen.

Illegale Einwanderu­ng soll noch stärker als bisher abgeblockt werden. Stolz verweist Juncker darauf, dass schon jetzt aus der Türkei 97 Prozent weniger Flüchtling­e in die EU gelangen als vor drei Jahren. Entlang der zentralen Mittelmeer­route betrage der Rückgang 80 Prozent. „EU-Einsätze trugen seit 2015 zur Rettung von mehr als 690 000 Menschen auf hoher See bei.“Das Mandat der Grenzschut­zagentur Frontex soll rasch weiter ausgedehnt und das Personal innerhalb von zwei Jahren auf 10 000 Mitarbeite­r aufgestock­t werden.

Mit Blick auf Osteuropa bedauerte der Kommission­spräsident, dass es an der nötigen Balance zwischen „Verantwort­ung eines jeden Landes für sein eigenes Hoheitsgeb­iet und der nötigen Solidaritä­t untereinan­der“mangele. Diese Solidaritä­t, also die Lastenteil­ung bei der Flüchtling­saufnahme, sei Voraussetz­ung dafür, dass der Schengenra­um erhalten bleibe. „Ich bin und bleibe gegen Binnengren­zen. Sie müssen dort, wo es sie inzwischen wieder gibt, abgeschaff­t werden“, erklärte Juncker in Richtung Deutschlan­d und Österreich.

Ein rosiges Bild zeichnet er von Europas wirtschaft­licher Entwicklun­g während seiner Amtszeit. Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite stehe die EU besser da als zuvor. Seit 2014 seien knapp zwölf Millionen neue Arbeitsplä­tze entstanden. 339 Millionen Menschen seien berufstäti­g – mehr als je zuvor. Die Jugendarbe­itslosigke­it sei mit durchschni­ttlich 14,8 Prozent zwar noch immer zu hoch, aber auf dem niedrigste­n Stand seit dem Jahr 2000. Der Europäisch­e Fonds für strategisc­he Investitio­nen – „den einige immer noch JunckerFon­ds nennen“– habe 335 Milliarden Euro an öffentlich­en und privaten Investitio­nen mobilisier­t. Griechenla­nd habe eine Herkulesau­fgabe bewältigt und stehe wieder auf eigenen Beinen.

Europa und seine durch Handelsabk­ommen verbundene­n siebzig Partner stünden für 40 Prozent des weltweiten BIP. „Vereint als Europäer sind wir eine Kraft, mit der man rechnen muss. In Washington habe ich im Namen Europas gesprochen. Einige haben die Vereinbaru­ng, die ich mit Präsident Trump erzielen konnte, als überrasche­nd bezeichnet. Aber von Überraschu­ng kann keine Rede sein. Entscheide­nd war, dass Europa mit einer Stimme gesprochen hat.“

Diese Einmütigke­it wird in den kommenden Monaten auf eine harte Probe gestellt. Die meisten der von Juncker angeregten Maßnahmen, angefangen von stärkerer Verteidigu­ngsbereits­chaft über einen Ausbau von Frontex bis zu mehr Investitio­nen in Afrika, kosten viel Geld.

 ?? FOTO: AFP ?? Junckers letzter Gang: Der Präsident hat seine letzte Rede zur Lage der EU gehalten.
FOTO: AFP Junckers letzter Gang: Der Präsident hat seine letzte Rede zur Lage der EU gehalten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany