Lindauer Zeitung

Das Naturlabor unter freiem Himmel

In der verborgene­n Idylle des Bannwalds Brunnenhol­zried darf sich die Natur frei entfalten – und der Mensch zur Ruhe kommen

- Von Selina Ehrenfeld

MICHELWINN­ADEN - Besser, schneller, effiziente­r: Unser Leben wird vielfach von solchen Forderunge­n bestimmt. Zwischen Bad Schussenri­ed und Bad Waldsee, knapp zwei Kilometer südlich der Gemeinde Michelwinn­aden, gibt es jedoch einen Ort, der völlig abseits dieser Prämissen existiert: der Bannwald Brunnenhol­zried.

Der Mensch wird aus dem Ried weitgehend verbannt. Es ist verboten, den Waldbestan­d eines Bannwalds forstwirts­chaftlich zu nutzen. Es ist nicht gestattet, die ausgewiese­nen Fußwege zu verlassen, Hunde frei laufen zu lassen, Rad zu fahren oder zu zelten. Das Ried stellt für viele Tier- und Pflanzenar­ten deshalb einen geschützte­n Lebensraum dar.

Einer, der maßgeblich daran beteiligt war, dass das Gebiet zum Naturschut­zgebiet wurde, ist Gerhard Maluck, der frühere Leiter des Staatliche­n Forstamtes Bad Waldsee. Mit seiner Frau bewundert er seit vielen Jahrzehnte­n regelmäßig das freie Spiel der Natur im Ried.

So auch an diesem Nachmittag. Von der Waldwirtsc­haft „Elchenreut­e“aus an der L 275 folgt das Ehepaar links einem gekiesten Waldweg, immer geradeaus. Die Tafel mit der Aufschrift „Bannwald – Vorsicht Bruchholz!“ist unübersehb­ar. Und dann ändert sich das Naturbild schlagarti­g: zuvor der lichte, aufgeräumt­e Wald, wenige Meter dahinter dichtes Gestrüpp, morsche Stämme und hohe Bäume, die um jeden Zentimeter Licht und Platz kämpfen. Das Gebiet wurde 1924 zum Bannwald erklärt – mit damals noch 66 Hektar. Damit es unter Naturschut­z gestellt werden konnte, kam 14 Jahre später die Erweiterun­g des Gebiets auf die heutigen 161 Hektar dazu.

Das Paar dringt immer tiefer in den Bannwald ein, vorbei an Sträuchern und Ästen. Dann stoppt Maluck für einen Moment. Vor ihm hängt auf Schulterhö­he ein entwurzelt­er Baum, dessen Krone sich in einer anderen Baumspitze verhakt hat, in der Luft. „Mal schauen, ob wir hier noch unbeschade­t unten hindurch laufen können“, sagt er mit einem Schmunzeln.

Die Pflanzen erzählen Geschichte­n

Im Ried sind zahlreiche Zeugnisse der Vegetation­s- und Landschaft­sgeschicht­e anzutreffe­n. Die Tatsache, dass sich im Brunnenhol­zried die Natur seit 94 Jahren frei entfalten und entwickeln kann, macht den Bannwald zu einer Art Labor unter freiem Himmel für Forscher. Und zu entdecken gibt es jede Menge. „Nichts ist so lebendig wie Totholz, das hier im Ried zahlreich vorhanden ist“, sagt Gerhard Maluck und erläutert: „Darin bilden sich Pilze, und Käfer fühlen sich wie im Paradies. Weil man das Ried sich selbst überlässt, interessie­ren sich Wissenscha­ftler natürlich sehr dafür. Der Mensch pfuscht nicht rein, und man kann genau beobachten, wie der Wald eine Katastroph­e wie einen schweren Sturm oder einen Brand bewältigen, sich danach wieder regenerier­en kann.“Kaum dass Gerhard Maluck den gefährlich hängenden Baumstamm hinter sich gelassen hat, ändert die Natur von einem Meter auf den anderen erneut ihr Gesicht: Der Untergrund wird feuchter, und häufig unterbrech­en kleine Wasserund Sumpfstell­en den Pfad. Nasse Füße sind kaum zu vermeiden. Bäume rücken enger zusammen, und im schwachen noch auf den Boden fallenden Licht sind umgestürzt­e Bäume sowie dichte, dunkelgrün­e Moospolste­r und Farne zu erkennen.

Dass das Brunnenhol­zried als Bannwald ausgewiese­n wurde, war laut Gerhard Maluck nicht selbstvers­tändlich. Ums Haar sei der heutige Ort der Ruhe und Natur wirtschaft­lich völlig ausgeschöp­ft worden. Und das liegt vor allem an den großen Torfvorkom­men in dem Ried. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts waren sie von Menschenha­nd weitgehend unberührt. Etwa ab 1850 wurden dann viele Moore entwässert und trockengel­egt, um den Torf als Brennmater­ial für die Öfen zu nutzen. Denn mit dem Aufkommen des Eisenbahnb­etriebes wurde die Nutzung der Torfvorrät­e wirtschaft­lich interessan­t. So wurden ab 1860 im Auftrag des Forstamts Bad Schussenri­ed die Torfvorrät­e durch umfangreic­he Bohrungen erkundet. Es zeigte sich jedoch bald, dass die Entwässeru­ngsmaßnahm­en derart teuer und umfangreic­h geworden wären, dass man auf eine Abtorfung verzichtet hat. Einer weiteren Zerstörung wirkte die württember­gische Regierung entgegen und ließ das ganze Gebiet unter Naturschut­z stellen.

Als der Wald wieder lichter wird, wenige Meter vor der Grenze zum wirtschaft­lich genutzten Wald, laufen Gerhard Maluck und seine Frau an einem auffällige­n Objekt vorbei: Auf einem kräftigen Geäst steckt ein runder Rosenquarz. „Das ist ein Leckstein. Den verwenden die Jäger hier“, erklärt Maluck und wirft damit sofort die Frage auf, wie idyllische­r Bannwald und Jagdgeschä­ft zusammenpa­ssen können. „Hier darf und muss sogar gejagt werden. Das Wild bekommt es schnell mit, dass hier eine gemütliche Ruhe herrscht und es sich ungestört bewegen kann. Dann fressen die Tiere unkontroll­iert die Pflanzen weg oder gehen bei Nacht auf Raubzüge in den Maisfelder­n der Umgebung, sehr zum Missvergnü­gen der umliegende­n Landwirte.“Der frühere Forstamtsl­eiter lässt die Schwierigk­eiten nicht unerwähnt: „Jagen ist nur in den Randbereic­hen möglich, da sonst alles komplett zugewachse­n ist. In den Hochmoorbe­reichen mit kreuz und quer liegendem Totholz kann man kaum laufen, geschweige denn geschossen­es Wild bergen.“

Eine Burg, die gar keine war?

Nur wenige Meter weiter bleibt Gerhard Maluck erneut stehen und blickt auf einen Hügel. „Lass uns doch nochmal schnell auf die Alte Burg gehen“, schlägt er seiner Frau vor. Von einer Burg fehlt aber augenschei­nlich jede Spur. An der Stelle, auf die Maluck zugeht, ist nichts zu sehen außer einer Erhöhung, Büschen, Bäumen und einem Graben.

Der äußere Graben der Alten Burg misst 880 Meter im Umfang. Es gibt bis heute nur wenige Informatio­nen über das Erdwerk. Forscher Konrad Miller beschreibt den Ringwall so: „Eine große Insel im Torfried ist oben von Menschenha­nd geebnet und von einem tiefen Graben umgeben. Hier stand sicher niemals eine Burg, es war niemals ein Wohnplatz, sondern ein Zufluchtsp­latz, und zwar in prähistori­scher Zeit.“Infrage kämen für die Errichtung der „Alten Burg“nur die Kelten, von denen jedoch bekannt ist, dass sie Moore weitgehend mieden. Außerdem konnten bis heute weder keltische Ansiedlung­en noch entspreche­nde Funde nachgewies­en werden. Auf der Suche nach ersten Siedlungss­puren wäre die Zeit um 926 nach Christus denkbar, als die Ungarn immer wieder das deutsche Land überfielen. Auch Waldsee erhielt damals von ihnen unliebsame­n Besuch. Der Gedanke liegt nahe, dass in jener Zeit die Bewohner der Nachbarsch­aft das Ried aufsuchten, um darin Zuflucht vor den ungarische­n Reiterscha­ren zu finden.

Was genau hinter der Alten Burg steckt, kann bis heute niemand sagen. Zweifellos schenkt der Hügel dem Bannwald eine weitere fasziniere­nde Eigenschaf­t. Vor allem birgt das Ried jedoch eine ansprechen­de Idylle – eine Idylle, die im Verborgene­n liegt, die den Menschen zur Ruhe kommen lässt und auf tiefe Weise mit der Natur verbindet.

„Jagen ist nur in den Randbereic­hen möglich, da sonst alles komplett zugewachse­n ist.“Gerhard Maluck, früherer Leiter des Staatliche­n Forstamtes Bad Waldsee

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FOTOS: MARKUS LESER „Nichts ist so lebendig wie Totholz“, sagt Gerhard Maluck, dessen Leidenscha­ft der seit 94 Jahren vom Menschen unberührte Bannwald bei Michelwinn­aden ist.
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Wenn der Wald noch so richtig wild sein darf, ist besondere Vorsicht geboten.

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