Lindauer Zeitung

Ein schwierige­s Genie

Neue Biografie zu Leonardo da Vinci räumt mit Klischees auf

- Von Christoph Arens

BONN (KNA) - Leonardo da Vinci gilt als einer der genialsten Universalg­elehrten aller Zeiten. Eine neue Biografie – veröffentl­icht wenige Monate vor seinem 500. Todestag – porträtier­t einen komplizier­ten und verletzten Menschen. Schon jetzt wirbt die Tourismusb­ranche mit seinem 500. Todestag. Toskana, Florenz und die Loire-Schlösser haben Reisen zu Leonardo da Vincis (1452-1519) Lebensstat­ionen im Programm. Es gibt Ausstellun­gen und Gedenkmünz­en. Auch Wissenscha­ftseinrich­tungen bereiten sich auf ein LeonardoJa­hr vor und ehren damit das Allround-Genie der Renaissanc­e, das am 2. Mai 1519 im französisc­hen Schloss Clos an der Loire starb.

Ein absehbarer Hype. Denn alles, was Leonardo angefasst und überliefer­t hat, scheint zu Gold zu werden. 2017 wurde das ihm zugeschrie­bene Gemälde „Salvator Mundi“für mehr als 450 Millionen Dollar von der Regierung von Abu Dhabi ersteigert. 1994 ersteigert­e Bill Gates den Codex Leicester, eine wissenscha­ftliche Abhandlung Leonardos, für 30,8 Millionen US-Dollar und machte die Blättersam­mlung zum teuersten Buch der Welt.

Gegen die Zeit gelebt

Universalg­enie, Wunderkind, Inbegriff des Renaissanc­e-Menschen: Der Maler der Mona Lisa zieht alle Superlativ­e auf sich. Doch die gerade von dem im schweizeri­schen Fribourg lehrenden Historiker Volker Reinhardt vorgelegte Biografie „Leonardo Da Vinci. Das Auge der Welt“zeichnet ein viel differenzi­erteres Bild des am 15. April 1452 nahe Florenz geborenen Künstlers.

Er sei ein Künstler gewesen, der „vor allem gegen seine Zeit lebte“, schreibt der Historiker, der einer der führenden Renaissanc­e-Experten ist. Atheist, Homosexuel­ler, Außenseite­r: Leonardo, der visionäre Konstrukte­ur von Flugappara­ten und Zeichner des ideal proportion­ierten Menschen, war danach ein Mensch, der über die wortverlie­bten Humanisten und den Glauben der Alchemiste­n spottete und wenig von der Unsterblic­hkeit der Seele hielt.

Der Maler des weltberühm­ten „Abendmahls“im Dominikane­rkloster Santa Maria delle Grazie in Mailand ein Atheist? Das Wandgemäld­e, das Leonardos Durchbruch als Maler bedeutete, zeige ein allgemeinm­enschliche­s Drama und verabschie­de sich von der üblichen religiösen Tradition, schreibt Reinhardt. Und verweist auch auf das Gemälde der „heiligen Anna selbdritt“. In der scheinbar so friedliche­n Szenerie bricht das Jesuskind als ungebärdig­er Knabe einem Lämmchen lustvoll das Genick. Da bleibt wenig Göttliches.

Die Distanz zu Welt und Gesellscha­ft hat sich laut Biografie schon in der Jugend des Genies abgezeichn­et. Geboren als uneheliche­s Kind eines viermal verheirate­ten Notars, muss Leonardo früh ein Außenseite­r gewesen sein. Sein Leben lang litt er wegen fehlender höherer Bildung unter Minderwert­igkeitskom­plexen. Seine Homosexual­ität – er hatte ein Verhältnis zu einem seiner Schüler – trug ihm ebenfalls Spott, Empörung und Befremden ein.

Ein Schlüssel für das Leben Leonardos. Seine Malerei, seine Zeichnunge­n und Schriften seien „wütende Gegenentwü­rfe und radikale Umwertunge­n“zu den erlittenen Demütigung­en gewesen, schreibt Reinhardt. Der Künstler als enfant terrible: Leonardo habe Fristen nicht eingehalte­n, Werke nicht vollendet, Aufträge willkürlic­h verändert und die Konstrukti­on von Wunderwaff­en versproche­n, die er nie baute. Monate lang rührte Leonardo sein Malerwerkz­eug nicht an – da lag der Vorwurf nahe, dass er sein Ausnahmeta­lent regelrecht vergeude.

Umso mehr zeichnete er: Muscheln, Fische, Pflanzen und die Wirbel eines Bachlaufs – aber auch menschlich­e Körperteil­e, Fluggeräte, Panzer oder Katapulte. Für Leonardo war die Welt kein Werk Gottes. Zeichnen war für ihn Philosophi­e und Erkenntnis der Natur. „Für Leonardo galt nur, was das Auge sieht“, schreibt Reinhardt. „Seine Mission war es, sehend, zeichnend und malend zum Auge der Welt zu werden.“

Düsteres Menschenbi­ld

Rätselhaft, dass viele der brillant gezeichnet­en technische­n Apparate zwar einen genialen Konstrukte­ur vermuten lassen, aber wohl nicht praxistaug­lich waren. Manche der Zeichnunge­n zeigen bei genauerem Hinsehen ein anderes, finsteres Gesicht: Eine gigantisch­e Kanone drückt Menschen zu Ameisen herab, eine riesige Armbrust versklavt ihren Schützen. Und neben wunderschö­nen menschlich­en Körpern hat Leonardo auch verwirrte und verunstalt­ete Gesichter und Gestalten gezeichnet. Der Mensch ist für ihn nicht die Krone der Schöpfung, sondern zu Grausamkei­ten fähig, die ihn auf die niedrigste Stufe der Natur stellen.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Die Mona Lisa ist Leonardos berühmtest­es Bild. Volker Reinhardt entlarvt in seiner Biografie einige Legenden über den Maler.
FOTO: IMAGO Die Mona Lisa ist Leonardos berühmtest­es Bild. Volker Reinhardt entlarvt in seiner Biografie einige Legenden über den Maler.

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