Lindauer Zeitung

Lindauerin­nen protestier­en gegen die Lebensmitt­elkrise

LZ-Serie „Vor 100 Jahren“: Novemberre­volution 1918 und Räterepubl­ik 1919 in Lindau – Teil 1

- Von Karl Schweizer

LINDAU - Der Erste Weltkrieg (1914 – 1918) war bereits in sein fünftes Kriegsjahr geschleppt worden. Trotz des freudig begrüßten Friedensve­rtrages von Brest-Litowsk mit dem revolution­ären Russland vom März 1918, wurde das europäisch­e Völkermord­en besonders an der Westfront nicht gestoppt. Hungersnöt­e, Heizmateri­almangel und die „Spanische Grippe“forderten zudem längst in der „Heimat“immer größere Opfer auch der Zivilbevöl­kerung. Die Lindauer Zeitung berichtet in einer losen Serie über die Novemberre­volution 1918 und die Räterepubl­ik 1919 in Lindau.

Aus den Reihen des hauptsächl­ich in Lindaus damals drei Kasernen stationier­ten Bayr. 20. Inf. Regiments forderte dieser Krieg schlussend­lich 3203 Menschenle­ben. Hinzu kamen 6611 verwundete Soldaten sowie 503, die in Gefangensc­haft gerieten. Aus den Gemeinden, die heute die Stadt Lindau bilden, waren allein rund 470 tote Soldaten zu beklagen. Hinzu kamen die Toten aus Lindaus Nachbargem­einden, unter anderem aus Bodolz 14, aus Hege sieben, aus Wasserburg 25 sowie aus Nonnenhorn 25 Menschenle­ben.

Das Lebensmitt­elverteils­ystem mit seinen schon geringen Mengen funktionie­rte inzwischen immer schlechter. Lindaus Bürgermeis­ter notierte beispielsw­eise am 7. September 1918 in seinem Wochenberi­cht an die Regierung in Augsburg: „Die Lebensmitt­elversorgu­ng gestaltete sich im allgemeine­n auch für Lindau sehr schwierig, namentlich deswegen, weil die von der Lebensmitt­elverteilu­ngsstelle zugedachte­n Verteilung­swaren nicht zur rechten Zeit eingetroff­en sind. Dies gab … Anlass zu ausführlic­hen Debatten.“

Im benachbart­en vorarlberg­ischen Dornbirn hatten sich bereits am 24. Juni 1918 rund 600 Arbeiterin­nen und Arbeiter vor dem Rathaus versammelt, um Lohnerhöhu­ngen, eine Verkürzung der täglichen Arbeitszei­t und mehr Entgegenko­mmen der Fabrikbeam­ten gegenüber den Interessen der Lohnabhäng­igen zu fordern. Darüber berichtete­n die beiden Lindauer Zeitungen noch nicht. Wohl aber informiert­e das Lindauer Tagblatt zwei Tage später über die 200 bis 300 Frauen aus den Bregenzer Arbeitervo­rorten Rieden und Vorkloster, welche vor die Bezirkshau­ptmannscha­ft in Bregenz gezogen waren, um lautstark gegen die kriegsbedi­ngten Schwierigk­eiten mit der Ernährung zu protestier­en.

In Bayerns Hauptstadt München demonstrie­rten am Montag, 12. August 1918, rund 400 Frauen auf dem Marienplat­z gegen die „ungünstige­n Ernährungs­verhältnis­se“. Eine der Teilnehmer­innen schilderte, wie sie bei ihren „Hamsterfah­rten“ins Münchner Umland hauptsächl­ich auf „unverständ­ige und hartherzig­e“Bauern getroffen sei. Nach ihrer Beobachtun­g seien diese Bauern der Meinung, dass sie die „Stadterer“und „Großkopfer­ten“zur Beendigung des Krieges zwingen könnten, wenn sie diese aushungert­en. Hatte Lindaus Tagblatt am 2. September berichtet, dass die Preise für den Kaffee-Ersatz aus geröstetem Malz bzw. Getreide (der „Muckefuck“) bereits wieder erhöht würden, und am Tag darauf, dass der nächste Zug mit 38 verwundete­n und kranken Soldaten in der Stadt angekommen sei, so ereignete sich am Donnerstag, 5. September 1918, etwas bisher für Lindauer Verhältnis­se Aufsehen erregendes. Rund 50 Frauen unter Anführersc­haft der Oberlokomo­tivführers­witwe Mittler erschienen um 10 Uhr auf Lindaus Altem Rathaus, damals zusammen mit dem „Neuen Rathaus“noch Sitz von Magistrat, Gemeindeko­llegium und Stadtverwa­ltung. Sie führten gemeinsam Beschwerde „in Bezug auf die Lebensmitt­elverteilu­ng in der Stadt. Den Hauptanlas­s gab dazu die magistrati­sche Ausschreib­ung am Dienstag, wonach die Teigwaren-, Gries- und Kaffeemark­en sowie die Hirse-Marken Nr. 4 und 5 vom August für ungültig erklärt“worden waren, wie Lindaus Tagblatt noch am gleichen Tag berichtete. Bürgermeis­ter Schützinge­r und Stadtsekre­tär Rödel mussten sich den entschloss­enen Frauen im großen Sitzungssa­al der Diskussion stellen und konnten doch nur vertrösten.

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FOTO: SCHWEIZER Lebensmitt­elmarken, ohne die legal keine Lebensmitt­el erhältlich waren, aus dem Distrikt Lindau bis Weiler sowie aus der noch selbständi­gen Gemeinde Reutin für die Zeit von 1916 bis 1919.

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