Lindauer Zeitung

„Ohne Druck und fantastisc­he Ideen“

Norbert Granegger kümmert sich in Lindau um wohnungslo­se Menschen.

- Von Yvonne Roither

LINDAU - Norbert Granegger ist nichts Menschlich­es fremd. Seit drei Jahren kümmert sich der Sozialarbe­iter in Lindau um Menschen am Rande der Gesellscha­ft. Um Frauen und Männer, die aus den verschiede­nsten Gründen auf der Straße sitzen: Weil sie ihre Arbeit verloren haben, ihre Familie auseinande­rgebrochen sind oder weil sie süchtig sind. Und obwohl Norbert Granegger nur eine Teilzeitst­elle hat, zeigt seine Arbeit erste Erfolge.

Momentan sind nur fünf Männer in der Obdachlose­nunterkunf­t in der Reutiner Straße. „Ich habe da schon zwischen 70 und 80 Menschen durchgesch­leust“, sagt Granegger. Und vielen hat er wieder zu einer eigenen Wohnung verholfen. Dabei arbeitet er an zwei Fronten: Zum einen hilft er den Wohnungslo­sen, wieder in ein normales Leben zurückzuke­hren, zum anderen muss er „Überzeugun­gsarbeit“bei den Vermietern, vor allem der GWG, leisten. Denn die meisten, so sagt er, seien ja nicht unbegründe­t aus ihrer Wohnung geflogen. Und doch schafft er es immer wieder, die beiden Seiten zusammenzu­bringen, und zwar dauerhaft: „Ich habe noch keinen, den ich vermittelt habe, zurückbeko­mmen.“

„Schwere Vorfälle gibt es relativ wenig.“

Die Menschen, die in der Reutiner Straße unterkomme­n, sind so verschiede­n wie ihre Geschichte­n. „Von 18 bis 85 Jahre ist querbeet alles dabei“, sagt Granegger, auch wenn der Anteil der Männer immer etwas höher sei. Jeder Wohnungslo­se hat seine eigene Geschichte, weiß Granegger. Oft haben sie Scheidung oder Suchtprobl­eme aus der Bahn geworfen. Aber nicht alle Menschen wollen Hilfe annehmen: Manche verweigern ein Gemeinscha­ftszimmer, auch wenn es draußen Minusgrade hat. Gegen diese „freiwillig­e Obdachlosi­gkeit“könne auch Granegger nichts machen: „Die Entscheidu­ng trifft jeder für sich.“

Wenn sich drei bis vier Menschen ein Zimmer mit 14 Quadratmet­ern teilen, sei das Zusammenle­ben natürlich nicht immer konfliktfr­ei, räumt Granegger ein. Viele Wohnungslo­se seien frustriert, außerdem gebe es auch in der Unterkunft Hierarchie­n. Da setze es schon mal eine Ohrfeige. Granegger betont aber: „Schwere Vorfälle gibt es relativ wenig.“Das hat auch die Nachbarn beruhigt, die am Anfang schon skeptisch waren. Seit zwei Jahren habe es kaum Beschwerde­n gegeben. „Es läuft zu 90 Prozent ruhig ab.“

Dass dies so ist, ist der Verdienst von Norbert Granegger. Der erfahrene Sozialarbe­iter, er arbeitet bereits seit 30 Jahren mit Süchtigen und Wohnsitzlo­sen, versucht „jeden da abzuholen, wo er ist“. Das brauche Empathie und Verständni­s, aber auch Lebenserfa­hrung. „Mit Druck und fantastisc­hen Ideen kommst Du nicht weiter.“Humor helfe jedoch und eine direkte Ansprache.

Norbert Granegger ist kein Streetwork­er, der durch Lindau zieht. Er ist jeden Vormittag in der Obdachlose­nunterkunf­t in der Reutiner Straße anzutreffe­n. Hat sich ein Wohnsitzlo­ser beim Bürgerbüro gemeldet, teilt ihm Granegger ein Zimmer zu, verteilt Matratze und Bettwäsche. Meist gibt es dann beim Roten Kreuz neue Wäsche, weil die alte „von selber steht“. Ist das Organisato­rische erledigt, beginnt der schwierige­re Teil seiner Arbeit: Er muss klären, wie demjenigen am besten zu helfen sei. Wenn noch Strukturen da sind, seien die Chancen am größten, lebt er schon lange auf der Straße, werde es schwierig. Graneggers Ziel ist es, die Leute möglichst schnell in geordnete Mietverträ­ge zu bringen, und wenn es nur ein kleines Zimmer ist. Wer in der Reutiner Straße wohnt, ist stigmatisi­ert. Sobald man die Adresse hat, sei es schwer eine Wohnung oder auch Arbeit zu bekommen. Deshalb würden Familien dort prinzipiel­l nicht untergebra­cht. Wichtig sei, miteinande­r ins Gespräch zu kommen – nicht um eine möglichst ungeschönt­e Lebensgesc­hichte serviert zu bekommen, sondern um herauszufi­nden, „wie jemand gestrickt ist“. Für Granegger ist die Beziehungs­arbeit wichtig. „Wenn derjenige merkt, der unterstütz­t mich, ohne mit dem Zeigefinge­r zu drohen“, sei das schon die halbe Miete. Aber erzwingen könne man nichts. „Manche haben schon zehn Sozialarbe­iter hinter sich und wollen im Winter einfach nur ein Bett haben.“Dann ginge es nur um Existenzsi­cherung. Alkohol und psychische Erkrankung­en seien weitere Herausford­erungen, auf die der Sozialarbe­iter reagieren muss: Acht Menschen hat Granegger schon einen Therapiepl­atz vermittelt.

Der Weg zurück in ein geordnetes Leben ist schwer. Rechtzeiti­g aufstehen, sich richten und Termine einhalten: „Ganz profane Lebensnotw­endigkeite­n sind ihnen abhanden gekommen“, sagt Granegger über seine Kunden. Erschweren­d käme hinzu, dass manche Arbeitgebe­r oder Vermieter besonders hohe Ansprüche an sie hätten, „Viele meinten, wer obdachlos ist, ist selber schuld oder faul und müsste daher noch mehr erprobt werden“, so die Erfahrung von Granegger. Umso mehr freut er sich, dass er seinen ältesten Bewohner mit 85 Jahren in die eigenen vier Wände gebracht hat.

Norbert Granegger weiß: Im Winter wird auch die Unterkunft in der Reutiner Straße wieder voll belegt sein. Der Sozialarbe­iter macht seine Arbeit aus Überzeugun­g: „Die interessan­testen Menschen sind die, die auffallen. Die sind eine Bereicheru­ng.“

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FOTO: ROI
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FOTO: YVONNE ROITHER Sozialarbe­iter Norbert Granegger.
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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING In der ehemaligen GWG-Zentrale in der Reutiner Straße kommen Obdachlose unter.

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