Papst gerät im Missbrauchsskandal in Bedrängnis
Vatikan-Kennerin Schavan widerspricht Skeptikern – Kardinalsrat stärkt Franziskus den Rücken
ULM - Der Missbrauchsskandal, Forderungen nach mehr Einfluss für Frauen in der Kirche, nach mehr Transparenz in Finanzfragen und nach der Kommunion für wieder verheiratet Geschiedene: Papst Franziskus sieht sich derzeit vielen Herausforderungen gegenüber. Und er muss viel Kritik einstecken: Er bleibe unkonkret, unpräzise, wirke hilflos.
Gleichzeitig gleicht der Vatikan einem Intrigantenstadel. Das beweist ein elf Seiten langes Papier, das seit Ende August die Wellen hoch schlagen lässt. Verfasst hat es Carlo Maria Viganò, italienischer Erzbischof und Ex-Botschafter des Vatikans in den USA. Am Freitag legte Viganò nach: Der hochrangige Würdenträger des Kirchenstaats holt darin zum Rundumschlag gegen Papst Franziskus aus, weil der in einem Missbrauchsskandal in den USA versagt habe. Das Unerhörte: Offen fordert er den Papst – immerhin Stellvertreter Christi auf Erden – gleich noch zum Rücktritt auf. Viganò stellt Franziskus damit in die Ecke der Vertuscher, die der Pontifex selbst stets fassen will.
Akteure sollen sich bekehren
Doch es gibt Gegenstimmen und Erklärungen: „Franziskus hat schon vor seiner Wahl, im Vorkonklave, betont, die Christen müssten zunächst ihre Beziehung zu Gott klären“, sagt Annette Schavan, die als Botschafterin beim Heiligen Stuhl bis vor drei Monaten den Papst regelmäßig getroffen hat und als eine der besten deutschsprachigen Vatikan-Expertinnen gilt. Sie ergänzt: „Bei dieser Maxime ist Franziskus geblieben.“Denn der Papst setze nicht viel Vertrauen allein in Strukturen oder neue Köpfe – im Gegenteil. Franziskus will, dass die Akteure sich bekehren. Schavan präzisiert: „Das gilt für die gesamte Institution.“
Besonders hoch sind die Erwartungen an Franziskus, im Missbrauchsskandal härter durchzugreifen. 2014 berief er eine Kommission zum Schutz Minderjähriger ein. Zu den Mitgliedern dieser Kommission gehörten auch Laien und Ordensleute, die als Minderjährige von Geistlichen missbraucht wurden. Einige von ihnen verließen das Gremium im Jahr 2017 wieder – und sind enttäuscht.
Unter ihnen ist Marie Collins, eine irische Ordensfrau. Sie war selbst in ihrer Kindheit Opfer von sexuellem Missbrauch geworden. Ihr Protest richtete sich gegen die Tatsache, dass Papst Franziskus im Umgang mit sexuellem Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker angeblich zweierlei Maß anlege. Kurz zuvor waren drei Mitarbeiter der Glaubenskongregation von Franziskus entlassen worden. Zumindest zwei von ihnen waren mit der Bekämpfung von Missbrauchsfällen befasst.
Seit einigen Wochen aber wirkt Papst Franziskus hilflos. In einem biblischen Vergleich sprach er vom Satan als „dem großen Ankläger“, der versuche, das gläubige Volk aufzuhetzen. Sicher war das nicht als Plädoyer gegen die Aufklärung der Straftaten gedacht, sondern eher als Appell zur Einigkeit. Doch durch das Schweigen über sein eigenes Verhalten in der Affäre um den US-Ex-Kardinal McCarrick und durch eingestandene Fehler im Umgang mit der chilenischen Missbrauchskrise ist Franziskus in die Defensive geraten. Zwar versetzte er den chilenischen Priester Fernando Karadima (88) am Freitag in den Laienstand. Der als charismatisch geltende Karadima steht im Mittelpunkt einer großen Missbrauchskrise in der chilenischen Kirche. 2011 wurde er wegen sexueller Vergehen verurteilt. Doch ist nicht abzusehen, ob diesem Schritt weitere Maßnahmen folgen.
Der Kardinalsrat „K9“zur Reform des Vatikan-Apparats sah sich daher veranlasst, dem Papst öffentlich den Rücken zu stärken. Ähnlich wie vor eineinhalb Jahren, als sie den Papst gegen die Kritik konservativer Kardinäle an seiner eher liberalen Eheund Scheidungslehre in Schutz nahmen, gaben die in Rom versammelten Ratgeber ihm auch diesmal Rückendeckung. Gleich zweimal in drei Tagen bekundeten sie ihm „ihre volle Solidarität“.
Annette Schavan ordnet die Skepsis konservativer Kreise ein: „Diese Kritik resultiert ja aus der Tatsache, dass Franziskus Veränderungen auf den Weg bringt.“Die Kritiker fürchten nach ihren Erfahrungen aus fünf Jahren in Rom den Machtverlust. „Andere wiederum verstehen nicht, dass die Themen, die sie selbst wichtig finden, von Franziskus nicht sofort angepackt werden.“Manches Feld dagegen gehe der Papst bewusst mit langem Atem an: „Wenn er bei den Forderungen nach mehr Beteiligung der Frauen vorpreschen würde, flöge ihm der Laden um die Ohren.“
Zurück zum Kardinalsrat „K9“: Offenbar war der Druck in den vergangenen Wochen so groß, dass die Kardinäle den Papst zweimal zum Handeln drängten: Den ersten Tag der Beratungen beschlossen die Prälaten mit dem vielsagenden Hinweis, dass der Heilige Stuhl „alle nötigen Erklärungen“zu den Ereignissen der vergangenen Wochen vorlegen werde. Am Ende der Beratungen hieß es, der Papst habe „nachdem er den Rat der Kardinäle gehört habe“, beschlossen, eine Sonderversammlung der Vorsitzenden aller Bischofskonferenzen weltweit zum Thema Missbrauch Minderjähriger einzuberufen.
Mit diesem Schritt kommt der Papst einer Forderung konservativer Bischöfe aus den USA entgegen. Sie hatten vorgeschlagen, die im Herbst im Vatikan geplante Jugendsynode abzusagen und stattdessen eine Sondersynode zum Thema Missbrauch einzuberufen. Etwas Ähnliches tut der Papst nun. Angesichts eines Problems, das er weder durch persönliches Charisma noch durch prägnant formulierte Interviews lösen kann, greift Franziskus auf eine seiner bekannten Reformideen zurück: Er will das Thema auf die Ebene der Weltkirche verlagern, setzt auf die weltweite Kollegialität der Bischöfe.
Hoffnung auf Asien
Annette Schavan erklärt: „Franziskus bleibt sich hier treu, erlässt keine Vorschriften, sondern er setzt Impulse und erwartet eine synodale Kirche.“Er erwarte selbstständiges Denken: „Aber er erwartet nicht zu viel von den offenkundig müden und lamentierenden Europäern, die mit der Verdunstung des Glaubens zu kämpfen haben.“Vielmehr traue Franziskus den Kirchen Asiens Aufbruchstimmung zu.
Möglicherweise gelingt es dem Papst damit, zu verhindern, dass die Gesamtkirche durch eine anhaltende Serie von kleineren Brandherden immer wieder neu Schaden nimmt. Sein Vorgänger Benedikt XVI. erlebte in seinen drei Jahrzehnten in vatikanischen Spitzenämtern bereits die beiden ersten verheerenden Stürme des Missbrauchsskandals. Daraufhin formulierte er 2010 die bittere Erkenntnis, dass „die schlimmste Verfolgung der Kirche nicht durch ihre äußeren Feinde kommt, sondern aus den Sünden innerhalb der Kirche entsteht.“