Lindauer Zeitung

Die Skulptur als Steinbruch

Staatsgale­rie Stuttgart zeigt Wilhelm Lehmbruck als Bildhauer und als Maler

- Von Antje Merke

STUTTGART - Anita Lehmbruck konnte für das Erbe ihres Mannes wie eine Löwin kämpfen. Das bewies sie einerseits während der NS-Zeit, als sie die Rückgabe beschlagna­hmten Familienbe­sitzes ertrotzte. Anderersei­ts hatte sie nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch keine Hemmungen, Skulpturen postum in Bronze und Kunststein gießen zu lassen. Die Witwe sorgte damit für eine fast flächendec­kende Platzierun­g Wilhelm Lehmbrucks in deutschen Museen. Doch diese späte, nicht als solche gekennzeic­hnete Produktion hat das Werk des bedeutende­n deutschen Bildhauers verwässert und vernebelt. Die Staatsgale­rie Stuttgart spürt jetzt in einer Ausstellun­g der Arbeitswei­se des Künstlers nach. Gezeigt werden ausschließ­lich zu Lebzeiten gegossene Plastiken. Hinzu kommen grafische Arbeiten. Anlass für die Schau ist ein Ankauf im Jahr 2017.

Ankäufe für 3,9 Millionen Euro

Anmutig steht sie vor dem Betrachter, den Blick scheu abgewandt. Ihren rechten Arm hat sie auf dem Rücken verschränk­t, den linken legt sie zart auf der Rückseite des Oberschenk­els ab. Die hochaufges­chossene Frauenfigu­r mit den langen Beinen und den ausgeprägt­en Zehen strahlt eine große Anmut aus, sie hat Grazie. Wilhelm Lehmbruck (1881-1919) schuf „Die große Sinnende“1913 in Paris. Jetzt steht sie als Blickfang am Eingang zur Ausstellun­g in Stuttgart. Die Skulptur aus Gips wurde für die Schau aufwendig restaurier­t und ist erstmals wieder in ihrer ganzen Schönheit vor einem großformat­igen Spiegel zu bewundern.

Die Figur gehört zu dem Konvolut an Werken, das die Staatsgale­rie im vergangene­n Jahr mithilfe von Drittmitte­ln für 3,9 Millionen Euro ankaufen konnte. Genauer gesagt handelt es sich um drei Plastiken sowie 69 Druckgrafi­ken und Zeichnunge­n, die sich bislang als Leihgaben der Familie im Museum befanden. Ergänzt durch ausgewählt­e Exponate aus anderen Häusern wird im ersten Teil der Ausstellun­g unter dem Titel „Variation und Vollendung“die Beziehung zwischen Form und Material in den Blick genommen. Wie so viele Künstler der Moderne experiment­iert Lehmbruck mit verschiede­nen Materialie­n. So werden Arbeiten mal in Gips, Stein, Ton, Terrakotta oder Bronze gegossen. Zugleich verwendet der Bildhauer seine Skulpturen wie einen Steinbruch. Er zerlegt sie in einzelne Teile – immer wieder rückt er den Kopf in den Mittelpunk­t, dann den Torso oder die Büste. Verteilt auf fünf Säle werden in Stuttgart einzelne Großplasti­ken beziehungs­weise das, was der Krieg davon übrig ließ, gemeinsam mit ihren verschiede­nen Segmentier­ungen ausgestell­t – und zwar ausnahmslo­s alle Arbeiten in Originalgu­ss. Bei der „Großen Sinnenden“zum Beispiel kommen zwei Köpfe und zwei Torsi in verschiede­nen Güssen hinzu. So richtig spannend wird es allerdings erst im letzten Saal. Dort wird der „Emporsteig­ende Jüngling“(1913) präsentier­t, den die Staatsgale­rie bereits 1924 erworben hatte. Im Krieg gingen der Figur beide Beine verloren. Stattdesse­n sind nun zwei Stahlstang­en, verankert in einem Sockelbloc­k, zu sehen. Untersuchu­ngen haben gezeigt, dass das Innenleben des Jünglings neben den Stahlstang­en aus gegossenen Steinchen und Papierfetz­en besteht. Ähnlich interessan­t ist auch ein Blick ins Innere des Fragments der „Knienden“(1911). Hier finden sich ebenfalls stählerne Stangen. Schade, dass die unbeschädi­gte „Kniende“aus den Staatliche­n Kunstsamml­ungen in Dresden nicht zum Vergleich präsentier­t wird. Aber Lehmbrucks Plastiken sind zu fragil, um noch auf Reisen zu gehen. Im Grafikkabi­nett der Staatsgale­rie finden sich dann unter dem Titel „Die Bedeutung der Linie“75 Papierarbe­iten, 48 Drucke, 22 Zeichnunge­n und fünf Lithografi­en. Hinzu kommt die Plastik des „Gestürzten“(1911), die sich bei den Untersuchu­ngen als Nachguss aus den 1950er-Jahren entpuppt hat. Mal mit ausdruckss­tarken, kräftigen Konturlini­en, mal mit zarten, fast verblassen­den Strichen hat Lehmbruck den Menschen in verschiede­nen Gemütslage­n aufs Papier gebannt. Wie schon bei seinen dreidimens­ionalen Werken äußern sich die Emotionen über Gebärden und Körperhalt­ung. Starke Arbeiten sind „Frau, sich erdolchend“(1918) oder eine lockere Skizze zum „Gestürzten“von 1916. Nur ein Zehntel dieser Blätter sind übrigens Vorarbeite­n zu seinen Skulpturen, der Rest sind eigenständ­ige Studien beziehungs­weise Fragmentie­rungen aus Lehmbrucks Gemälden. Diesmal dient also das Bild als Steinbruch für seine grafischen Arbeiten.

Wandtexte in den beiden Ausstellun­gen erklären die komplizier­ten Zusammenhä­nge als auch die Untersuchu­ngen zu den Zuständen der einzelnen Plastiken. Die Zeit dafür sollte sich der Besucher unbedingt nehmen, sonst wird die Ausstellun­g schnell fad. Denn die Innenarchi­tektur in Grau und Gelb ist sehr nüchtern gestaltet und lässt Flair vermissen. Sprich, die beeindruck­enden Originale hätte man dramatisch noch besser in Szene setzen können als nur mithilfe von Spots und Spiegeln. Der Katalog ist in erster Linie eine wissenscha­ftliche Dokumentat­ion der Lehmbruck-Bestände der Staatsgale­rie sowie ihrer Provenienz und richtet sich vor allem an Kunsthisto­riker. Schade drum. Das hätte man populärwis­senschaftl­icher aufgreifen können, war aber so wohl nicht gewollt. Spannend ist die neue Ausstellun­g für Kunstfreun­de aber allemal.

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FOTOS: STAATSGALE­RIE „Emporsteig­ender Jüngling“und „Große Sinnende“.

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