Lindauer Zeitung

„Der Mann galt nicht als gefährlich“

Der Angriff eines 21-Jährigen am Freitagnac­hmittag auf ahnunglose Passanten kam wie aus heiterem Himmel – Psychother­apeut Tilmann Steinert nennt mögliche Ursachen

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RAVENSBURG - Nach der Messeratta­cke vom Freitag auf dem Ravensburg­er Marienplat­z fragen sich die Menschen in der Region: Was bringt einen Täter dazu, ohne Vorwarnung auf wildfremde Menschen loszugehen? Unserer Redakteuri­n Andrea Pauly hat Tilmann Steinert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatri­e und Psychother­apie des ZfP Südwürttem­berg am Standort Weißenau, Fragen dazu beantworte­t.

Der mutmaßlich­e Täter vom Marienplat­z war wegen Psychosen bereits in stationäre­r Behandlung. Viele Menschen fragen nun: Warum darf so jemand wieder raus?

Bisher war das Gefährdung­spotential nicht bekannt. Der Mann galt nicht als gefährlich. Er war freiwillig in Behandlung, es gab keine Hinweise darauf, dass eine Fremdgefäh­rdung durch ihn möglich ist. Um jemanden gegen seinen Willen in einem Krankenhau­s unterbring­en zu dürfen, müssen ganz konkrete Hinweise auf eine solche Fremdgefäh­rdung vorliegen. Und das war da nicht der Fall. Bis zu 3,5 Prozent der Bevölkerun­g leben mit einer psychotisc­hen Erkrankung, das sind gar nicht so wenige. Man muss aber ganz klar sagen, dass die allermeist­en Menschen mit einer Psychose nicht gefährlich oder gewalttäti­g werden und damit gibt es auch keinen Anlass, sie einzusperr­en. Gerade wenn jemand mit einer solchen Erkrankung arbeitet und ein geregeltes Leben führt, gibt es keinen Grund, ihn wegzusperr­en, nur weil er krank ist. Hinzu kommt, dass ein Zustand, in dem so eine Tat geschieht, auch durch Drogen oder Alkohol ausgelöst werden kann. Das ist in diesem Fall noch zu klären.

Was genau sind psychotisc­he Episoden?

Eine Psychose ist ein partieller Realitätsv­erlust, der oft mit Wahnvorste­llungen oder Halluzinat­ionen verbunden ist. Der Erkrankte hört zum Beispiel Stimmen, die ihm befehlen, etwas zu tun und der Betreffend­e erkennt nicht, dass das eine Sinnestäus­chung ist. Aber viele folgen diesen Stimmen trotzdem nicht. Wahnvorste­llungen können schon handlungsl­eitend sein, etwa wenn jemand denkt, jemand anders sei der Teufel. Psychosen können Folge einer Schizophre­nie sein, aber auch bei Depression­en, Alzheimer, nach Drogenkons­um auftreten.

Das passt aber nicht zu der Informatio­n, dass er das Messer mitgenomme­n hat, um damit einen Streit mit seinem Arbeitskol­legen „beizulegen“.

Die Unterbring­ung in der forensisch­en Psychiatri­e ist auch erst einmal nur vorläufig. In der Gerichtsve­rhandlung ist mithilfe eines Gutachters noch zu klären, ob der Betreffend­e einsichts- und steuerungs­fähig war. Er kann psychotisc­h gewesen sein und trotzdem genau wissen, dass er nicht mit dem Messer zustechen darf. Wenn ein Gutachter zu dem Schluss kommt, dass er zwar psychotisc­h, aber trotzdem schuldfähi­g war, geht er ins Gefängnis.

Wie wahrschein­lich lässt sich das denn im Nachhinein noch feststelle­n?

In diesem Fall hat ein Psychiater den mutmaßlich­en Täter direkt nach dem Vorfall gesehen und es gibt viele Zeugen. Dadurch bin ich zuversicht­lich, dass das gut rekonstrui­erbar ist.

Wie wahrschein­lich ist es, dass jemand vortäusche­n kann, psychotisc­h zu sein?

Es dürfte zumindest in der forensisch­en Psychiatri­e sehr schwer sein, er wird dort ja jeden Tag rund um die Uhr beobachtet.

Wie gehen Sie im ZfP nach diesem Vorfall damit um? Schließlic­h war er Patient in einer Ihrer Einrichtun­gen.

Er war freiwillig regulär in Behandlung, aber nicht in der Forensik. Da ist man nicht freiwillig, sondern nur aufgrund eines Gerichtsur­teils. Die Frage ist immer, ob es Hinweise gab, ob jemand hätte tätig werden müssen, und die ist berechtigt. Wir schauen uns den konkreten Fall genau an. Ich wäre sehr beunruhigt, wenn das ergeben hätte, dass wir was versäumt haben. Wenn jemand zum Beispiel Gewaltfant­asien äußert, würde man im Krankenhau­s sehr hellhörig werden. Wenn zu erwarten ist, dass jemand eine Gewalttat begehen könnte, dürfen wir die Schweigepf­licht brechen.

Wie gut können Sie und Ihre Mitarbeite­r das denn einschätze­n? Den Angriff auf dem Marienplat­z hat niemand kommen sehen.

Wir sind sehr vertraut mit diesen Dingen, das gehört zu unseren Kernaufgab­en. Was wir wissen ist, dass junge Männer mit Alkohol- und Drogenmiss­brauch ohnehin ein erhöhtes Aggression­srisiko haben. In Verbindung mit einer Psychose sind sie die größte Risikogrup­pe. Im vorliegend­en Fall gab es überhaupt keine Hinweise. Wenn es Hinweise darauf gibt, dass er die Tat geplant hat, etwa durch den Kauf des Messers, würde das eher gegen eine aufgehoben­e Steuerungs­fähigkeit sprechen. Das ist kein typisches Verhalten für Menschen mit Psychosen.

Bei dem mutmaßlich­en Täter handelt es sich um einen Flüchtling aus Afghanista­n. Welche Rolle könnten der kulturelle Hintergrun­d und eine mögliche Traumatisi­erung spielen?

Traumatisi­erung ist keine Diagnose und keine Krankheit, sondern eine Tatsache. Ob jemand eine posttrauma­tische Belastungs­störung entwickelt, ist eine andere Frage. Aber es gibt durchaus eine Gereizthei­t bei vielen Menschen mit einem solchen Hintergrun­d. Derartige Gewalttate­n sind aber völlig untypisch für traumatisi­erte Menschen. Der Mann stammt aus Afghanista­n, wo schon lange Bürgerkrie­g herrscht. Da mögen andere Normen verbreitet sein oder andere Arten, wie Konflikte ausgetrage­n werden. Da liegt das Messer vielleicht etwas näher. Aber da bin ich im Bereich der Spekulatio­n.

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FOTO: LENA MÜSSIGMANN Tilmann Steinert, Ärztlicher Direktor des Zentrums für Psychiatri­e Weißenau.

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