Lindauer Zeitung

Kreis Ravensburg ist rechnerisc­h mit Ärzten überversor­gt

Laut Sozialmini­sterium und Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen besteht kein Ärztemange­l im Raum Wangen

- Von Annette Vincenz

RAUM WANGEN - Alle reden vom Ärztemange­l im ländlichen Raum, der immer schlimmer zu werden scheint. Viele Patienten rund um Wangen haben schon einmal die leidvolle Erfahrung gemacht, auf einen Facharztte­rmin – zum Beispiel beim Hautarzt – monatelang warten zu müssen. Eine Anfrage der CDULandtag­sabgeordne­ten Raimund Haser (Wangen) und August Schuler (Ravensburg) brachte jetzt aber Erstaunlic­hes zutage: Demnach ist der Kreis Ravensburg mit Ärzten nicht unter-, sondern überversor­gt.

Das baden-württember­gische Sozialmini­sterium hat die Entwicklun­g der medizinisc­hen Versorgung in den vergangene­n zehn Jahren auf Basis von Angaben der kassenärzt­lichen und kassenzahn­ärztlichen Vereinigun­gen ausgewerte­t. Demnach praktizier­ten im Kreis Ravensburg im Jahr 2018 insgesamt 73 Ärzte mehr und acht Zahnärzte mehr als 2008. Vor allem die Zahl der Psychother­apeuten nahm um 23 auf 94 zu, aber es gibt auch beispielsw­eise mehr Interniste­n, Orthopäden und Radiologen als noch vor zehn Jahren. Auch die Anzahl der Zahnärzte stieg im betreffend­en Zeitraum um 4,5 Prozent. Ein leichter Rückgang (jeweils minus 1) war lediglich bei Augen- und Kinderärzt­en zu verzeichne­n.

Die kassenärzt­liche Vereinigun­g berechnet auf Basis der Bevölkerun­gszahl auch einen Versorgung­sgrad in Prozent. Bei den Hausärzten beträgt dieser 107,2 Prozent, bei Augenärzte­n 114,4, bei Chirurgen 138,3, bei Frauenärzt­en 113,5, bei HNO-Ärzten 123,9, bei Hautärzten 129,3, bei Kinderärzt­en 177,0, bei Nervenärzt­en 152,4, bei Orthopäden 156,2, bei Psychother­apeuten 152,7, bei Urologen 121,4, bei Anästhesis­ten 124,2, bei Interniste­n (fachärztli­ch tätig) 189,0, bei Kinder- und Jugendpsyc­hiatern 100,0 und bei Radiologen 110,3 Prozent. Dementspre­chend gibt es auch bei allen Mediziner-Gruppen mit Ausnahme der Hausärzte sowie Kinderund Jugendpsyc­hiater Zulassungs­beschränku­ngen. Das heißt: Es dürfen aufgegeben­e Praxen übernommen, aber keine zusätzlich­en gegründet werden. Bei Zahnärzten und Kieferorth­opäden bestehen aktuell trotz Überversor­gung von 112,6 Prozent (Zahnärzte) und 127 Prozent (Kieferorth­opäden) keine Zulassungs­beschränku­ngen.

Wirklichke­it sieht anders aus

Jetzt ist die Gesamtzahl der Ärzte das eine, deren Verteilung auf urbanen und ländlichen Raum innerhalb des Kreises Ravensburg aber das andere. Zwar werden die Statistike­n nicht auf die Gemeinde-Ebene herunterge­brochen, bis zum nächsten Hausarzt sei es von jedem Ort im Kreis Ravensburg allerdings höchstens zehn Kilometer weit. Fachärzte seien in höchstens 25 Kilometern zu erreichen, behauptet das Ministeriu­m. „Die flächendec­kende ambulante ärztliche Versorgung ist somit aus Sicht der Landesregi­erung gewährleis­tet“, heißt es in der Stellungna­hme abschließe­nd.

„Das mag auf dem Papier stimmen, die Wirklichke­it sieht aber anders aus“, meint CDU-MdL Raimund Haser. Vor allem in seinem Wahlkreis Wangen gebe es teils extrem lange Wartezeite­n für einen Besuch beim Facharzt. „Das Leben passt nicht in eine Excel-Tabelle.“Er meint, dass die Diskrepanz zwischen statistisc­her Überversor­gung und subjektive­r Unterverso­rgung unter anderem daher rührt, dass die Zuschnitte zu groß sind. Wenn ein Isnyer mit Hautproble­men entweder zu einer überfüllte­n Dermatolog­enpraxis nach Wangen oder zu einem weit entfernten Hautarzt in Ravensburg fahren könne, sei er rein statistisc­h zwar versorgt, tatsächlic­h aber arm dran. Zudem würden viele Arztsitze nicht hundertpro­zentig ausgefüllt, zum Beispiel von Müttern oder Vätern in der Familienph­ase.

Haser drängt daher auf eine Systemände­rung und hat darüber auch schon mit Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (ebenfalls CDU) diskutiert. Das von Spahn angekündig­te „Terminserv­ice- und Versorgung­sgesetz“sei zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber längst nicht genug. „Das Problem ist nicht die Abstimmung der Termine, sondern eine Unterverso­rgung.“Entweder müsse es zu einer Ausweitung der Arztstelle­n kommen, oder die beschränke­nden Budgets sollten wegfallen. Letztere führen dazu, dass Ärzte keinen finanziell­en Anreiz mehr haben, neue Kassenpati­enten aufzunehme­n, wenn ihre Budgets erschöpft sind.

Langfristi­g sei der Ärztemange­l kein Problem des ländlichen Raums, sondern werde auch in den Städten ankommen.

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FOTO: DPA Vorsorgeun­tersuchung beim Hautarzt: Unter anderem durch das Hautkrebss­creening ist das Patientena­ufkommen gestiegen.

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