„Hier in der Provinz regeln wir das gründlich“
Alfred Reichert, Vizepräsident des Landgerichts Kempten, geht in den Ruhestand
KEMPTEN - Alfred Reichert, Vizepräsident des Landgerichts Kempten, geht in den Ruhestand. Vorher hat er mit Uli Hagemeier aber noch über Anwälte mit Star-Allüren, Angeklagte mit Hang zur Lüge, Zeugen mit Erinnerungslücken und Richter mit Optimismus gesprochen.
Herr Reichert, schätzt man als Richter gute Anwälte?
Ja, auf jeden Fall. Viele Fachanwälte sind heute hervorragend ausgebildet. Um denen Paroli bieten zu können, haben wir am Landgericht Kempten mehrere Spezialkammern gebildet, beispielsweise im Bau- und Architektenrecht, im Kapitalanlage- und Versicherungsvertragsrecht sowie bei Arzthaftungssachen.
Hat sich das Verhältnis zwischen Richtern und Anwälten in Ihrer langen Laufbahn verändert?
Nein, das ist gleich geblieben. Wir respektieren einander, aber wenn ein Anwalt mit Star-Allüren auftritt, kommt das nicht gut an. Mir hat mal ein Anwalt gesagt: „In München regeln wir so etwas einfacher.“Dem habe ich geantwortet: „Wir sind hier in der Provinz, wir regeln das gründlich.“
Sie waren auch Jugendrichter. Braucht man für diese Aufgabe eine besondere Kompetenz?
(lächelt) Ja, man braucht einen langen Zeigefinger. Zielrichtung ist nicht die Strafe, Jugendrichter wollen zur Erziehung beitragen. Sie wollen Jugendliche dabei fördern, auf den richtigen Weg zu kommen.
Was zeichnet gute Richter aus?
(überlegt lange) Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, gute Richter müssen rechtlich sehr versiert sein, eine hohe Sozialkompetenz und Führungsqualitäten haben, sie müssen rhetorisch gut und selbstbewusst genug sein, um Druck zu widerstehen. Sie haben sich in einem früheren Interview als Optimisten bezeichnet.
Ist das auch eine wichtige Eigenschaft für Richter?
Optimismus ist für alles, was man tut, eine wichtige Voraussetzung, also auch für unseren Beruf. Wenn ich jemanden zu einer Bewährungsstrafe verurteile, muss ich doch davon ausgehen, dass alles gut wird.
Sie haben ungezählte Verfahren geleitet. Welche bleiben hängen?
Widerliche Dinge wie der sexuelle Missbrauch von Kindern. Da ist es schwierig, fair zu bleiben. Es bleibt auch hängen, wenn man weiß, dass man belogen wird, das Gegenteil aber nicht beweisen kann. Bei mir ist zum Glück wenig hängengeblieben, auch wenn ich viel erlebt habe. An Mord und Totschlag erinnere ich mich natürlich, aber das meiste bleibt an der Oberfläche. Das ist auch gut so, denn niemand könnte das ständig mit sich herumtragen.
Wie sind Sie damit umgegangen, wenn Sie angelogen wurden?
Als Staatsanwalt habe ich einmal einen Zeugen nach einer offensichtlich falschen Aussage festnehmen lassen wegen Verdunkelungsgefahr. Das funktioniert aber nur bei schwer wiegenden Delikten. Wichtig ist es, konsequent zu sein und sich durch Fragen der Wahrheit möglichst zu nähern.
Dabei sind Richter oft auf Zeugen angewiesen – das ist schwierig, oder?
Ja, denn Menschen sind als Zeugen unzuverlässig. Jeder Mensch nimmt andere Dinge wahr, jeder hat nur seine subjektive Wahrheit. Wenn wir beide einen Unfall beobachten und nach einem halben Jahr vor Gericht als Zeugen aussagen, werden wir einen unterschiedlichen Sachverhalt schildern. Deshalb sind Richter darauf angewiesen, dass Zeugen sagen, wenn sie sich nicht mehr genau erinnern können. Es ist schwierig, aus Zeugenaussagen zu entwickeln, wie ein Geschehen sich wirklich abgespielt hat.
Richter haben eine große Verantwortung. Wie gehen Sie damit um?
Ja, das stimmt. Richter können Menschenleben zerstören. Stellen Sie sich vor, wir schickten einen Unschuldigen hinter Gitter. Wenn eine Vergewaltigung angeklagt ist, für die das Gesetz eine Mindeststrafe von zwei Jahren vorsieht, und es nur eine einzige Zeugin gibt, nämlich das mutmaßliche Opfer, dann ist das keine einfache Situation. Wer Richter als Weicheier bezeichnet, weil sie im Zweifel für den Angeklagten entscheiden, sollte selbst einmal solche Urteile sprechen und sich die Konsequenzen bewusst machen.
Müssen Richter auch die Opferrolle einnehmen?
Ja, das gehört zu unserer Verantwortung. Wir tun das, um die Opfer zu schützen. Es kann sein, dass peinliche Fragen einem Opfer noch größeren Schaden zufügen. Wenn ein Täter seinem Opfer, beispielsweise einem Kind, durch ein Geständnis eine Aussage erspart, hat er deshalb einen Rabatt verdient.
Das kommt oft nicht gut an, viele Menschen verstehen das nicht.
Dafür tragen Sie als Journalist eine Mitverantwortung. Wenn Sie schon vor Prozessbeginn schreiben, mit welcher Höchststrafe ein Vergehen geahndet wird, dann wecken Sie eine Erwartungshaltung. Dieses Höchststrafendenken ist sehr gefährlich. Die Bevölkerung verlangt oft mehr Sühne, als die Justiz sie geben kann – und das in vielen Fällen auch schon, bevor die Schuld bewiesen ist.
Auch Politiker haben jüngst Urteile als falsch bezeichnet.
Wir haben zum Glück noch die Gewaltenteilung. Wir Juristen machen das, was Gesetze uns vorgeben. Und wir können nur so gut sein wie die Gesetze, mit denen wir arbeiten müssen. Wenn Politiker dazu auffordern, Urteile zu ignorieren, ist das sehr gefährlich. An der Gewaltenteilung darf nicht gekratzt werden.
Hatten Sie jemals Angst, wenn Sie über gefährliche Menschen geurteilt haben?
Nein. Ich habe immer versucht, meine Familie zu schützen, deshalb sind meine Privatadresse und meine Telefonnummer nirgends veröffentlicht. Problematisch sind Straftäter, die wegen einer psychischen Krankheit stationär untergebracht sind, und bei denen man nicht weiß, wie sie sich verhalten. Aber Angst hatte ich nie.
Schauen Sie sich Gerichtssendungen im Fernsehen an?
Anfangs habe ich geschaut, was Alexander Hold im Fernsehen macht, weil ich ihn persönlich kenne. Er hat das fantastisch gemacht, aber bei uns vor Gericht geht es anders zu – das im Fernsehen ist nur Schauspiel. Und eine solche Show trägt auch nichts zum Verständnis über die Justiz bei.