Lindauer Zeitung

Obdachlose­r schafft den Weg zurück

Erst als alles weg ist, geht es für einen 42-Jährigen wieder bergauf.

- Von Yvonne Roither

LINDAU - Erst Knast, dann Obdachlosi­gkeit: Ein halbes Jahr hat der 42Jährige auf der Straße gelebt, in Parks geschlafen und gehungert. Doch er hat rechtzeiti­g die Kurve gekriegt – weil verschiede­ne Behörden zusammenge­arbeitet haben. Ein Beispiel, das Mut macht.

Abitur, Studium, Hochzeit und zwei Kinder: Bis zu seinem 39. Geburtstag läuft das Leben des Allgäuers nach Plan. Doch dann kommt 2015 die Trennung von seiner Frau – und nichts ist mehr, wie es sein sollte. Der Sorgerecht­sstreit eskaliert, bis er seine Exfrau mit einer Schrecksch­usspistole bedroht. „Ich war so in einem Tunnel drin“, sagt der hagere Mann und schüttelt den Kopf. Heute weiß er: „Das war das denkbar Schlechtes­te, was ich machen konnte.“

Geiselnahm­e lautet der Vorwurf, vier Jahre und zwei Monate das Urteil. Aus dem erfolgreic­hen Einkäufer wird ein Knacki, der seine Kinder jahrelang nicht sehen wird. Im Gefängnis hat er dann genug Zeit, darüber nachzudenk­en, wie er sein Leben wieder in den Griff bekommt. „Ich habe es mir nicht so schwierig vorgestell­t“, sagt er.

Zwei Rucksäcke und ein Schlafsack: plötzlich Penner

Doch das wird es. Als der Mann nach drei Jahren Knast entlassen wird, hat er etwas Überbrücku­ngsgeld und eine Entlassadr­esse. Allerdings kann er nur kurz bei seinem Cousin unterkomme­n, zu der restlichen Familie hat er keinen Kontakt mehr. „Ich war total planlos“, sagt er, der damals nur eins weiß: Sein Geld soll so lange wie möglich reichen – und daher kommt eine Pension nicht infrage. Zuerst lebt er einige Wochen in Memmingen, dann reist er weiter nach Leutkirch. Sein ganzer Besitz passt in zwei Rucksäcke, sein Schlafsack ist seine Lebensvers­icherung für die Nächte im Freien. Plötzlich ist er Penner.

„Es war mir lieber, wenn was los ist“, sagt der 42-Jährige, der anfangs bevorzugt an Bushaltest­ellen auf der Bank schläft. „Wenn man draußen schläft, ist man Freiwild.“Hier und da hebt er die ersten Pfandflasc­hen auf, aber er bettelt nicht. Lieber hungert er. „Ich hatte Angst vor dem Tag, an dem ich nichts mehr habe.“Mit Parkbänken hat er inzwischen schon einige Erfahrunge­n: Gebogene Bänke sind nicht gut für den Rücken, bei Bänken mit großen Abständen zwischen den Brettern kriecht die Feuchtigke­it rein.

Plötzlich ohne Rucksack: „Es geht nicht mehr“

Bei Behörden um Hilfe zu bitten, traut sich der Obdachlose nicht. „Meine Bewährung war ja an den Wohnsitz gekoppelt.“Im Juli packt er seine Sachen zusammen und zieht weiter nach Lindau, weil er positive Erinnerung­en damit verbindet. „Nach dem Abitur sind wir fast jeden Tag in Lindau am See gesessen.“Anfangs schläft er in den Grünanlage­n auf der Insel, dann findet er die „perfekte Bank“in der Nähe der Gerberscha­nze. Es ist warm, er fühlt sich wohl. „Die Leute haben guten Morgen gesagt, und ich bin jeden Morgen in den See gesprungen.“Die Wende kommt, als nach dem U&D-Festival sein Rucksack weg ist. Jetzt hat er nur noch ein Handtuch und eine Zahnbürste. Eine Woche hält er aus, doch als es nachts regnet, ist ihm klar: „Es geht nicht mehr.“

Das sehen auch Passanten so, die ihm raten, zur Bahnhofsmi­ssion zu gehen. Dort bekommt er einen Schlafsack und Kleider. „Das war für mich unglaublic­h“, sagt er. „Ich hatte zum ersten Mal wieder mit Menschen zu tun, die nicht auf der Straße leben.“Der 42-Jährige kommt täglich vorbei und fasst immer mehr Vertrauen. Als ihm dann das Geld ausgeht, fragt er Conny Schäle, die Leiterin der Bahnhofsmi­ssion, um Rat.

Inzwischen ist ihm das Leben auf der Straße schon anzusehen. Doch wie den Teufelskre­is durchbrech­en? Ohne Wohnung bekommt er keinen Job, ohne Job und Geld keine Wohnung. Der Versuch, ihn wieder ins Leben zu integriere­n, startet mit einem Behördenma­rathon, aus dem auch Conny Schäle lernt. Klar ist anfangs nur: Er muss seinen offizielle­n Wohnsitz im Allgäu abmelden und sich dort wohnsitzlo­s melden, auch wenn er damit Ärger wegen seiner Bewährungs­auflage riskiert. Doch auf dem Amt wird er weggeschic­kt, weil er keine Vermietera­uszugsbesc­heinigung vorweisen kann.

Mit dem Stempel „wohnsitzlo­s“geht es aufwärts

„Ich hab gesagt, dann lassen wir es halt“, sagt der Mann, der längst keine Kraft mehr zum Kämpfen hat. Doch Schäle macht ihm Mut, und als er kurz drauf die Bescheinig­ung seines Cousins vorlegt, bekommt er den gewünschte­n Stempel „wohnsitzlo­s“in den Pass. Damit geht er nun in Lindau zum Bürgerbüro, um sich dort als Obdachlose­r anzumelden: Als er endlich den Stempel „ohne festen Wohnsitz Lindau“hat, ist das Lindauer Jobcenter für ihn zuständig. Von da an geht es aufwärts; „Da wurde ich sehr herzlich empfangen“, erinnert er sich. „In so einer Situation, wo man nicht viel Selbstbewu­sstsein hat, ist das Zwischenme­nschliche enorm wichtig“, räumt der 42-Jährige ein, der nun Anspruch auf Hartz IV hat.

„Ein Dach über dem Kopf ist die Grundlage für alles“, weiß er. Und da hat der Mann, der seit sieben Monaten auf der Straße lebt, richtig Glück. Mithilfe von Conny Schäle bekommt er bis März nächsten Jahres ein Zimmer zum Hartz-IV-Satz. „Das war für uns wie ein Wunder“, sagt selbst die Leiterin der Bahnhofsmi­ssion. Stolz geht der Mann zum Bürgerbüro, um sich nun endgültig in Lindau anzumelden. Die hätten sich schon gewundert, was er schon wieder will. „Das war mein vierter Aufkleber innerhalb weniger Tage“, sagt er und ergänzt: „Jetzt bin ich offizielle­r Einwohner von Lindau.“„Wenn jemand so mitarbeite­t wie er, ist es herrlich“, lobt Schäle. Es brauche eben immer ein Fünkchen, damit „jemand etwas selber tut“. Wichtig sei dann aber auch, dass entspreche­nde Stellen rechtzeiti­g reagieren. Das klappe in Lindau aber meistens: „In Lindau ist die Zusammenar­beit super.“

„Mir geht es wirklich gut“, sagt der 42-Jährige, der mittlerwei­le nicht nur einen 450-Euro-Job, sondern sogar seinen vermeintli­ch gestohlene­n Rucksack zurückbeko­mmen hat. Ehrliche Finder haben ihn beim Fundamt abgegeben. Zeit, die letzten sechs Monate auf der Straße zu reflektier­en, hat er noch nicht. „Ich schlafe unglaublic­h viel, eigentlich zu viel“, sagt er. „Jetzt fällt viel Druck ab.“

Einfache Antworten gibt es bei der Problemati­k Obdachlosi­gkeit nicht. Das Thema ist so komplex, dass wir es in einer Serie beleuchten

wollen.

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FOTO: DPA
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FOTO: DPA/SOEREN STACHE Wenn die Parkbank zum einzigen Bett wird: Ein 42-jähriger Allgäuer hat selbst erfahren, wie schnell das gehen kann.

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