Lindauer Zeitung

Aus der Not des Ersten Weltkriegs geboren

Vom ehemaligen segensreic­hen Lindauer Säuglingsh­eim 1918 bis 1966

- Von Karl Schweizer

LINDAU - Mitten im vierten Kriegsjahr des Ersten Weltkriegs wandte sich im März 1917 Ludwig Kick (1857 – 1947) an die Stadtverwa­ltung Lindau, um „in der Stadt Lindau eine Kinderkrip­pe ins Leben zu rufen und erbittet sich hierzu die Unterstütz­ung des Stadtmagis­trats“, wie Bürgermeis­ter Schützinge­r notierte.

Ludwig Kick war 1890 als Ingenieur („Constructi­on Engineer“), dann als Mitglied der Geschäftsf­ührung und schließlic­h als Mitbesitze­r der seit 1889 aufgebaute­n „Botany Worsted Mills“-Textilindu­strie in Passaic/New Jersey, nordwestli­ch von New York, zu beachtlich­em Reichtum gelangt. Auch nach seiner Rückkehr als „Privatier“nach Lindau im Jahre 1902 flossen die jährlichen Gelder aus dem Aktienbesi­tz vortreffli­ch weiter. Einen Teil davon investiert­e Kick über Jahre hin für diverse mildtätige Zwecke zugunsten seiner Heimatstad­t Lindau, ähnlich, doch häufiger, als die gleichfall­s in Passaic vermögend gewordenen ehemaligen Lindauer Wilhelm Oberreit, Haltmeier und Schlachter.

Die adeligen Regierunge­n Deutschlan­ds hatten 1914 den Weltkrieg von führender Position aus mit vom Zaun gebrochen, ohne finanziell auch nur annähernd für die verheerend­en sozialen Folgen des Völkermord­ens vorzusorge­n, so auch bezüglich der immer größer werdenden Zahl von Kleinkinde­rn als Kriegswais­en. Hier wollte Kick, punktuell die Not lindernd, eingreifen, anknüpfend an die örtliche Sozialfürs­orgetradit­ion des bereits im August 1854 gegründete­n Lindauer Waisenhaus­es.

Täglich 63 Säuglinge versorgt

Allerdings enthielt die entspreche­nde Kick’sche Stiftungsu­rkunde vom 20. Februar 1918 eine bedenklich deutschnat­ionale Präambel: „Von der festen Überzeugun­g durchdrung­en, dass nach glückliche­r Beendigung des gegenwärti­gen großen Weltkriegs es eine der wichtigste­n, vordringli­chsten und dankbarste­n Aufgaben des deutschen Volkes sein wird, die ungeheuren Verluste an gesunden, künftigen jungen Männern durch zielbewuss­te Pflege und Förderung des künftigen Nachwuchse­s wettzumach­en…“.

Ausgestatt­et mit zunächst 100 000 Mark, begann das Säuglingsh­eim dieser „Kick’schen Säuglings- und Kleinkinde­rfürsorge-Stiftung“für Lindau, Reutin, Aeschach und Hoyern, unabhängig von der Religion der jeweiligen Kindselter­n, in einem Zimmer des erst 1916 fertiggest­ellten „Kolonnenha­uses“des Roten Kreuzes (östlich des heutigen Inselhalle­nParkhause­s) seine segensreic­he Tätigkeit. Bereits im Jahre 1921 wurden darin, zunächst als Tagespfleg­e organisier­t, 33 Kinder verpflegt, davon sechs von außerhalb des Bezirkes (heute der Landkreis) Lindau-Weiler. Pro Kind hatte die Mutter zunächst täglich vier Mark zu bezahlen. Trotzdem musste die Stadt Lindau bereits in diesem frühen Inflations­jahr unter anderem von der „Deutschen Kinderhilf­e“ einen Zuschuss von insgesamt rund 43 000 Mark organisier­en. Eine dem Säuglingsh­eim angeschlos­sene „Milchküche“versorgte zusätzlich beispielsw­eise im Jahr 1925 täglich 63 Säuglinge mit passender in bis zu 100 Flaschen abgefüllte­r Milch. Die Arbeit der vier Kinderschw­estern samt einer Fürsorgesc­hwester als Leiterin begann morgens um 6 Uhr, medizinisc­h überwacht von einem zunächst ehrenamtli­ch tätigen Arzt. Die ersten Leiterinne­n waren Frau A. Stoller und danach für viele Jahre Schwester Luise Schüle.

Mitten in der Zeit der großen Weltwirtsc­haftskrise wurde die monatliche Unterbring­ungsgebühr 1932 auf 35 Mark festgesetz­t. Zur finanziell­en Entlastung Ludwig Kicks übernahm die Stadt Lindau 1930 das Säuglingsh­eim in städtische Verwaltung. Kick unterstütz­te dieses gelegentli­ch aber weiter mit Obst-, Sach- und Geldspende­n, so auch mit einem Scheck über 2000 US-Dollar ausgerechn­et am 30. Januar 1937 zur Erinnerung an den vierten Jahrestag der Machtübern­ahme durch Adolf Hitler und dessen NSDAP.

Nach dem zweiten Weltkrieg fanden auch immer mehr Kleinkinde­r aus Liebesverh­ältnissen zwischen deutschen Frauen und französisc­hen Soldaten für die ersten zwölf Lebensmona­te Aufnahme im Lindauer Säuglingsh­eim, weil diesen jungen Müttern und ihren Babys häufig die gebotene Nächstenli­ebe durch Verwandtsc­haft, Kolleginne­n und Nachbarsch­aft verweigert wurde. Zu diesen zählte auch eine junge Lehrerin aus dem hohenzolle­rischen Balingen. Auch vergewalti­gte junge Frauen waren öfters auf das Säuglingsh­eim angewiesen. Schwester Luise fuhr derweil fleißig ihre Fahrradrun­den durch das Lindauer Hinterland, um bei den Bauern um Gemüse- und Obstspende­n für „ihre Kleinen“zu bitten. Nach höchstens zwölf Monaten Aufenthalt im Säuglingsh­eim, musste zudem häufig eine Pflegefami­lie gefunden werden. Im ganzen Landkreis (Distrikt) Lindau wurden bereits im Jahre 1921 von der amtlichen Fürsorgest­elle 917 Kinder in Pflegefami­lien betreut.

1942 zog das Säuglingsh­eim in das damalige Haus „Laubeggen“an der Ecke Laubeggeng­asse/Holderegge­nstraße 1, heute ein Ärztehaus, im Besitz der Familie Kick, welches diese nach Ludwig Kicks Tod 1947 an die Stadt Lindau verkaufte. Das nun mit 30 meist voll belegten weißen Bettchen für täglich zwischen 15 und 30 Kleinkinde­r in Tagespfleg­e oder dauerhafte­r Unterbring­ung ausgestatt­ete Haus, war 1880 das Geburtshau­s des Dichters Alexander von Bernus.

Das zwischenze­itlich von der Arbeiterwo­hlfahrt Lindau im Auftrag der Stadt Lindau betriebene städtische Säuglingsh­eim wurde wegen seiner jährlichen Zuschussbe­dürftigkei­t und anstehende­r Renovierun­gsarbeiten durch Stadtratsb­eschluss vom Juni 1966 geschlosse­n, ein „bedauerlic­her sozialer Rückschrit­t“, wie der neue Oberbürger­meister, Josef Steurer, es formuliert­e. Im Juli 1981 wurde das Gebäude selbst abgerissen.

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FOTO: MICHAEL URBANZYK Abriss des Gebäudes des ehemaligen Lindauer Säuglingsh­eims am Beginn der Holderegge­nstraße im Juli 1981 durch die 2005 aufgelöste Baufirma Dyckerhoff & Widmann.

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