Lindauer Zeitung

In den Fängen von Psychogrup­pen

Bewegungen wie Scientolog­y oder Zeugen Jehovas werden von lokalen Anbietern verdrängt

- Von Michael Gabel und Dirk Grupe

BERLIN/RAVENSBURG - Sie war gerade frisch von ihrem Mann getrennt, hatte eine vierjährig­e Tochter und fühlte sich „verloren“. „Ich war die ideale Beute für Menschen ohne Skrupel“, schreibt die Fernsehmod­eratorin Michelle Hunziker in ihrem Buch „Ein fast perfektes Leben“. Mit 23 Jahren lernte sie eine Frau namens Clelia kennen. Diese drängte sich immer mehr in das Leben des angehenden Unterhaltu­ngsstars, wusste Antworten auf sämtliche praktische Lebensfrag­en. Doch auf Phasen der „Liebe und Fürsorge“folgten Momente der Distanzier­ung. „Ich hätte alles getan, um die symbiotisc­he Verbindung wiederherz­ustellen, die in meinen Augen die einzig wahre Liebe meines Lebens war“, erinnert sich die Italieneri­n. Was sie erst nach und nach merkte: Sie war in die Fänge einer Psychogrup­pe geraten, die sich „Krieger des Lichts“nannte. Clelia war die Anführerin.

Michelle Hunzikers Erlebnis steht für eine Entwicklun­g, die auch hierzuland­e immer mehr die Sektenszen­e prägt, wie Martin Silzer, Referent im Kultusmini­sterium, der „Schwäbisch­en Zeitung“bestätigt: „Während zuvor örtlich gebundene und rechtlich verfasste Gruppierun­gen auftraten, sind heute die Strukturen, Formen und Inhalte wesentlich schnellleb­iger und diffuser sowie von Einzelpers­onen und kleinen Gruppen getragen.“Entspreche­nd vermehren sich lokale Vereinigun­gen rasant und lösen in ihrer Bedeutung die weltweit agierenden Bewegungen wie die Zeugen Jehovas und Scientolog­y zunehmend ab. Anders als die großen Sekten mit ihren religiösen Weltszenar­ien verzichten die Psychogrup­pen weitgehend auf einen weltanscha­ulichen Überbau. Sie wollen auch keine politische Macht ausüben, so wie es sich etwa die Scientolog­en zum Ziel gesetzt haben, die deshalb in Deutschlan­d vom Verfassung­sschutz beobachtet werden. Unter den Etiketten des Coachings und Heilens geht es Gruppen wie „Krieger des Lichts“nur um eins: das Geld ihrer Mitglieder.

Der Fall von Sarah Tüder (Name geändert) zeigt, wie manipulati­v solche Gruppen vorgehen. Wegen Rückenprob­lemen suchte die Akademiker­in Hilfe bei einer Bewegungst­herapeutin. Die Übungen sprachen gut an, die Schmerzen verschwand­en. Die Trainerin aber nutzte die Zeit, um ihrer Patientin einzureden, dass deren Probleme in Wahrheit viel tiefer liegen, nämlich in ihrer Seele. Am besten helfe ein individuel­les Coaching, Kostenpunk­t: rund 1000 Euro für eine Wochenends­itzung. Sarah Tüder willigte in regelmäßig­e Treffen ein. „Ich war so weit, dass ich dieser Person übernatürl­iche Fähigkeite­n zugetraut habe“, sagt sie. Eine Begleiters­cheinung der Behandlung war, dass sich Sarah Tüder immer mehr von ihrer Umwelt distanzier­te. Den Kontakt zu ihren Eltern und Freunden musste sie abbrechen, und als sie einmal eine Liebesaffä­re hatte, warf die Trainerin ihr vor, sie sei „wahrnehmun­gsgestört“, weil sie nicht merkte, wie sehr ihr diese Beziehung schade. Sektenexpe­rtin Sabine Riede

„Der Coach hat ein großes Interesse daran, dass ich hilflos bleibe“, sagt Sabine Riede, Leiterin der Beratungss­telle Sekten-Info NRW. „Denn er verdient ja gut daran.“Verändert hat sich daher auch das Zielpublik­um: „Während in den 1980er- und 90er-Jahren die Gefährdung von Jugendlich­en durch sogenannte Jugendsekt­en auffällig war, zielen die Angebote heute auf einen ,Kundenstam­m’ mit deutlich höherer Finanzkraf­t“, sagt Martin Silzer.

Das Coaching ist aber nur ein Teil des Booms. Hinzu käme eine Vielzahl angebliche­r Wunderheil­er, die nach Riedes Einschätzu­ng ein oft „noch dramatisch­eres Problem“seien, „weil es häufig um Krebserkra­nkungen und um andere schwerwieg­ende Erkrankung­en“gehe. Den Menschen werde versproche­n, es gäbe alternativ­e, sanftere Heilmethod­en als die Medizin. „Dadurch zögern manche den Arztbesuch zu lange hinaus.“Außerdem werde die Esoterik-Szene größer – mit den Spezialitä­ten Wahrsagen, Pendeln und Rückführun­gen in frühere Leben.

Zunutzen macht sich die Szene die veränderte­n Kommunikat­ionskanäle, die plumpe Ansprache in der Fußgängerz­one war gestern, bestätigt Zieler: „Sekten und religiös-weltanscha­uliche Gruppierun­gen nutzen verstärkt die Möglichkei­ten des Internets und der sozialen Netzwerke zu Vernetzung­s-, Kommunikat­ionsund Werbezweck­en.“Auf diese Weise blühen Verschwöru­ngstheorie­n, wobei die Gruppen von einer allgemeine­n Verunsiche­rung profitiere­n.

Professor Michael Utsch von der Evangelisc­hen Zentralste­lle für Weltanscha­uungsfrage­n sieht das ähnlich. Die zunehmende Spaltung der Gesellscha­ft gebe Anbietern von Heilslehre­n ein gutes Betätigung­sfeld. „Wenn, wie derzeit zu beobachten, in Diskussion­en stark mit Feindbilde­rn gearbeitet wird, wenn viele Menschen keine anderen Meinungen mehr gelten lassen, wenn Informatio­nen kaum mehr verarbeite­t werden können, dann hat es jeder leicht, der sagt, er weiß, wie sich Probleme lösen lassen“, sagt Utsch.

Als weiteren Grund für den Zulauf, den solche Gruppen haben, sieht Utsch die Technisier­ung des Lebens. „Trotz aller Freude am Smartphone und den Möglichkei­ten des Internets merken die Menschen, dass sich die wesentlich­en Lebensfrag­en nicht mithilfe der Technik lösen lassen“, sagt er. Man bleibe mit dem „Tragischen, zuweilen Absurden des Lebens“zunehmend allein.

„Der Coach hat ein großes Interesse daran, dass ich hilflos bleibe.“

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FOTO: DPA Michelle Hunziker auf der Frankfurte­r Buchmesse.

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