Gesundheitsminister enttäuscht die Ärzte
Neues Gesetz fordert mehr Sprechstunden – In Lindau reagieren Mediziner verärgert
LINDAU - Belustigung, Ärger und Enttäuschung, das erntet man, wenn man die Ärzte in Lindau nach dem neuen Gesetz von Gesundheitsminister Jens Spahn fragt. Sie fühlen sich verhöhnt, und einige werfen Spahn vor, sich auf ihre Kosten profilieren zu wollen.
Der Stein des Anstoßes ist ein Gesetz, das im April 2019 in Kraft treten soll. Spahn will damit dafür sorgen, dass Kassenpatienten wieder schneller an Arzttermine kommen. Die wichtigsten Punkte aus dem Gesetz klingen wie eine Verbesserung: Die Ärzte sollen mindestens 25 Stunden Sprechstunde pro Woche machen, statt wie bisher 20. Fachärzte, wie Augenärzte, Radiologen oder Frauenärzte sollen fünf dieser Sprechstunden für Patienten mit akutem Leiden ohne Termin freihalten.
Gar nicht begeistert sind die Ärzte in Lindau. Allerdings nicht, weil sie mehr arbeiten müssten. „Das ist schon lustig, ich biete ja mehr als 40 Stunden in der Woche an, das kann ich also halbieren“, sagt der Kinderarzt Dr. Klaus Adams. Sein Kollege Dr. Harald Tegtmeyer, auch ein Kinderarzt, ärgert sich: „Die Ärzte per Gesetz aufzufordern, jetzt doch endlich mal was zu arbeiten, finde ich respektlos. Die allermeisten Ärzte arbeiten bereits jetzt deutlich mehr als die 25 Stunden.“Bessern werde sich durch das neue Gesetz nichts.
Auch die Regelung zu den fünf offenen Sprechstunden findet wenig Anklang bei den Ärzten in Lindau. „Die fünf offenen Sprechstunden sind absolut an der Realität vorbei, wir weisen ja keine Patienten ab. Wenn sich jemand mit einem dringenden Fall meldet, kommt der immer irgendwie dran“, sagt der Internist und Vorsitzende der Lindauer Ärztegemeinschaft AGiL, Dr. CarlJoachim Mellinghoff.
Lindaus Ärzte empfinden den Gesetzesvorschlag als Hohn
Als Augenarzt wäre Dr. Matthias Georgi direkt von Spahns Initiative betroffen. Er müsste fünf Sprechstunden für Patienten ohne Termin festlegen, dadurch geht Flexibilität verloren. „Wenn ich der neuen Regelung folge, gibt es vielleicht fünf versorgte Patienten an dem Tag, und den Rest muss ich wieder heimschicken. In der Folge hab ich am nächsten Tag eine Schlange vor der Praxis“, sagt er. Das zusätzliche Geld bezeichnet keiner der Ärzte als attraktiv.
Spahns Gesetzespaket empfinden die Mediziner als Hohn für ihr Engagement. Sie ärgert, dass bei der Formulierung des Gesetzes keine Ärzte gefragt wurden, sondern das Ministerium einen Alleingang gemacht hat. Einige finden, dass sich der Gesundheitsminister auf ihre Kosten profiliert. „Das ganze Gesetz atmet Misstrauen und Unterstellung aus und passt damit gut in die Zeiten der Populisten aller Couleur“, meint zum Beispiel Georgi.
Dass die Situation für die Patienten auch am Bodensee sehr unangenehm ist, wissen die Ärzte. „Besonders Menschen, die von außerhalb nach Lindau ziehen, haben extrem schlechte Chancen, bei einem Facharzt aufgenommen zu werden“, weiß Tegtmeyer. Zum Beispiel ist es für Eltern mit einem Neugeborenen sehr schwer, einen Kinderarzt zu finden. Problem seien veraltete Schlüssel für die Zahl der Arztsitze. Die geben an, wie viele Ärzte einer Fachrichtung auf eine bestimmte Anzahl von Einwohnern kommen müssen. Sie sind mehr als 20 Jahre alt und wurden entworfen, um einen Überschuss an Ärzten einzudämmen. Anforderungen der modernen Medizin und immer ältere Patienten berücksichtigen die Schlüssel nicht. „Für Lindau sind zwei Kinderärzte vorgesehen, aktuell sind wir zu dritt und haben mehr als genug Patienten“, sagt Adams.
An eine Lösung durch mehr Vorgaben für die Ärzte glaubt keiner der Mediziner. Ein Problem sei überbordende Bürokratie, die koste Zeit für Patienten. Außerdem denken die Mediziner, dass zu wenig Nachwuchs aus den Universitäten kommt, der noch Hausarzt werden will. „Industrie und Forschung greifen viel guten Nachwuchs ab“, erklärt Mellinghoff. „Eine Woche mit 60 bis 70 Stunden Arbeit will heute einfach keiner mehr machen“, ergänzt Kollege Adams. Ändern könnten das nur eine Reform der Studienplatzvergabe, ein Abbau der Bürokratie und attraktivere Bedingungen für niedergelassene Ärzte. Ein Medizinstudent braucht aber elf Jahre, bis er überhaupt eine Praxis übernehmen kann. Tegtmeyer meint: „Eine schnelle Besserung ist kaum in Sicht.“