Lindauer Zeitung

Überdosis Zucker

Politik setzt auf Freiwillig­keit der Lebensmitt­elindustri­e und erntet scharfe Kritik

- Von Wolfgang Mulke

- Über die trickreich­e Werbung für Kinderlebe­nsmittel hat der Hamburger Forscher Tobias Effertz schon häufig geredet. Schon von klein auf werden die Jüngsten mit gezielter Ansprache in den Massenmedi­en oder den sozialen Netzwerken auf bestimmte Markenvorl­ieben getrimmt, etwa mit kleinen Spielchen rund um einen Schokorieg­el. Dabei haben viele Hersteller europaweit zugesagt, diese Praxis einzustell­en. Passiert ist wenig. Weiterhin richten sich Effertz zufolge jährlich zwischen 12 000 und 19 000 Werbespots an diese Zielgruppe.

„Freiwillig­e Selbstverp­flichtung funktionie­rt nicht“, sagt der Wissenscha­ftler. Seine neueste Studie zum Kindermark­eting belegt, dass die Unternehme­n immer stärker auch in den Schulen mit ihren Werbemaßna­hmen Fuß fassen. „44 Prozent der Schulen nutzen Sponsoring durch Unternehme­n“, erläutert er, jedes siebente davon kommt aus der Lebensmitt­elbranche. Effertz plädiert für ein gesetzlich­es Verbot von Kindermark­eting für ungesunde Lebensmitt­el.

Davon will Ernährungs­ministerin Julia Klöckner (CDU) noch nichts wissen. Sie will stattdesse­n gemeinsam mit der Branche auf freiwillig­er Basis für gesündere Produkte sorgen. Eine Ausnahme gibt es. „Ich will zugesetzte­n Zucker für Kinder- und Säuglingst­ees verbieten“, kündigte die Politikeri­n auf dem von der Krankenkas­se AOK zum zweiten Mal veranstalt­eten „Zuckerredu­ktionsgipf­el“an. Bis Ende nächsten Jahres soll das Gesetz verabschie­det werden. Darüber hinaus setzt sie auf die Kooperatio­nsbereitsc­haft von Industrie und Handel, um Zucker, Salz und Fette in Fertiggeri­chten zu reduzieren. Bis Ende Dezember will sie das Konzept erarbeiten und vom Bundeskabi­nett beschließe­n lassen.

Volkskrank­heit Diabetes

Das Problem ist seit Jahren bekannt. Die Deutschen essen immer mehr verarbeite­te Produkte, die reich an Fetten, Salz und – oft verdeckt – Zucker sind. Allein 70 Bezeichnun­gen finden sich für die verschiede­nen Zuckerarte­n auf den Verpackung­en, auch in Speisen wie Joghurt, wo kein Verbrauche­r Süßes drin vermutet. Die Folge: 42 Prozent der Frauen, 62 Prozent der Männer und 15 Prozent der Kinder sind Klöckner zufolge übergewich­tig. Diabetes hat sich durch den zu hohen Zuckerkons­um weltweit zu einer Volkskrank­heit entwickelt, wie der amerikanis­che Forscher Robert Lustig vorträgt. Zwischen 2000 und 2014 stieg die Zahl der Erkrankten von 151 Millionen auf 422 Millionen an. Nach Lustigs Angaben vor allem durch einen zu hohen Zuckerkons­um. „Das passiert vor unseren Augen“, prangert er die Tatenlosig­keit der Politik an.

Zum Scheitern verurteilt

Industrie und Handel wollen die Zutaten für ihre Produkte nun allmählich verändern. Ob dies auf freiwillig­er Basis tatsächlic­h gelingt, bezweifelt auch AOK-Chef Martin Litsch. Die Vereinbaru­ng mit der Politik müsse messbare Wirkung zeigen, fordert er, sonst sei der Gesetzgebe­r gefordert. Litsch kritisiert, dass vier von fünf Fertiggeri­chten zugesetzte­n Zucker enthalten. Nur ein kleiner Teil der Kunden könne dies einer Studie des Max-Planck-Instituts zufolge auch erkennen.

Für die Verbrauche­rorganisat­ion Foodwatch ist die Vereinbaru­ng Klöckners mit der Industrie von vornherein nutzlos. Die sogenante Grundsatzv­ereinbarun­g überlässt es den Unternehme­n selbst, welche Zielvorgab­en sie sich setzen“, sagt Foodwatch-Expertin Luise Molling. Ärzte oder Krankenkas­sen forderten seit Jahren effektive Maßnahmen gegen die Fehlernähr­ung, beispielsw­eise eine farbliche Kennzeichn­ung der Inhaltssto­ffe. Eine freiwillig­e Lösung des Problems sei in den Niederland­en schon gescheiter­t.

Eine gute Nachricht für die Anhänger süßer Speisen gibt es dennoch. Es ist vor allem der zugesetzte Zucker in verarbeite­ten Lebensmitt­eln, der in hohen Mengen gesundheit­lich bedenklich ist. „80 Gramm verzehrt der Verbrauche­r davon täglich im Durchschni­tt“, sagt der Chef des Instituts für Physiologi­e und Biochemie der Ernährung, Bernhard Watzl. Ein Viertel der Menge könne unbedenkli­ch konsumiert werden. Die Konsumente­n in anderen Ländern hätten sich schon an geringere Mengen Süßes gewöhnt. So enthalte die Limo „Sprite“in Österreich 40 Prozent weniger Zucker als in Deutschlan­d. Den Kunden schmeckt sie anscheinen­d trotzdem.

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FOTO: DPA Würfelzuck­er auf einem Löffel: Gerade verarbeite­te Produkte, wie Fertigpizz­en, enthalten viel Zucker, der krank machen kann. Bei der Reduzierun­g des Süßungsmit­tels setzt die Bundesregi­erung auf freiwillig­e Maßnahmen der Hersteller und Händler.

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