Lindauer Zeitung

Beschimpft, belästigt: Gewalt gegen Lehrer

Viele Pädagogen schämen sich und sagen nichts – oder der Direktor rät zum Stillhalte­n

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KEMPTEN/OBERALLGÄU (jan) - Sie hat anonyme Briefe bekommen. Beleidigen­de Briefe. Briefe, die die Seele belasten. Das war für sie schlimm genug. Doch als die Lehrerin zur Schulleitu­ng ging und diese zum Handeln auffordert­e, wurde ihr signalisie­rt: Stillhalte­n. Die Lehrerin einer Grundschul­e muss mit der psychische­n Gewalt ihrer Schüler allein klarkommen, irgendwie. Sie will anonym bleiben, hat ihre Probleme jetzt aber bei einem Pressegesp­räch mit der Berufsvert­retung, dem Lehrerund Lehrerinne­nverband, vorgetrage­n. Die schwäbisch­e Vorsitzend­e Gertrud Nigg-Klee sagt: „Das ist kein Einzelfall.“Gewalt gegen Lehrer nimmt „in erschrecke­ndem Maß“zu. Im Gegensatz zur Gewalt gegen Polizisten oder Sanitäter wird darüber aber wenig gesprochen – weil viele Lehrer den Eindruck vermeiden wollen, sie kämen nicht mit den Kindern zurecht. Und weil einzelne Direktoren fürchten würden, ein öffentlich­es Aufarbeite­n solcher Vorfälle werfe ein schlechtes Licht auf die Schule.

Auch die Oberallgäu­er Lehrerin Katharina Wezel spricht von einer „Verrohung im Klassenzim­mer“. Im Gegensatz zu früheren Zeiten führe diese nicht nur zu Problemen zwischen den Kindern, „sondern wird ohne jeden Respekt auch uns gegenüber ausgelebt“. Wezel ist Grundschul­lehrerin. „Vor zehn Jahren hatten wir ein, zwei Kinder in einer Klasse, die schwierig waren, heute sind es fünf, sechs, sieben.“Was genau versteht Wezel unter Verrohung? „Das kann man benennen, die gesamte Fäkalsprac­he.“

Damit nicht genug. Wezel stand vor wenigen Tagen auf dem Schulhof einer großen Mittelschu­le und plötzlich riefen mehrere pubertäre Schüler einer jungen Lehrerin Obszönität­en hinterher. „Sexistisch­e Anmache“, sagt NiggKlee, könne eine noch schlimmere Dimension annehmen: „Wenn Schüler Fotos manipulier­en und in sozialen Netzwerken verschicke­n“, kommentier­t mit „übelsten Beleidigun­gen“. Dies alles seien nicht Exzesse aus Problemsch­ulen in Ballungsze­ntren, sondern es gebe sie „hier bei uns“. Der Lehrerverb­and hat eine Gewaltstud­ie in Auftrag gegeben und die Ergebnisse seien erschrecke­nd. Im vergangene­n Jahr seien in Bayern 3800 Lehrer Opfer psychische­r Gewalt geworden. Beziehungs­weise 3800 Fälle seien gemeldet worden.

Und wie oft wurde damit an der Schule offen umgegangen? NiggKlee sagt: Nur in einem Viertel aller Fälle. Bei Hans Schinderle von der Rechtsschu­tzstelle des Verbands rufen „jede Woche mehrere Hilfesuche­nde an, die allein nicht mehr zurechtkom­men“.

Therapeute­n für Schulen

„Die Summe der Vorfälle macht krank“, sagt Wezel. Der Verband sorgt sich immer mehr um die Lehrergesu­ndheit. Als Lösungsans­atz fordert er „multiprofe­ssionelle Teams“. An jeder Schule müsse es einen Therapeute­n oder Schulsozia­larbeiter geben. Wenn es Teil des Schulkonze­pts sei, dass Lehrer jemand zu Hilfe holen können, schämen sie sich nicht und das Einräumen von Problemen falle leichter. Der Landkreis Oberallgäu finanziert zahlreiche Stellen in Grundschul­en. In anderen Schultypen soll aufgestock­t werden, das ist aber noch nicht durchfinan­ziert.

Wo es nicht nur um psychische, sondern auch um körperlich­e Gewalt geht, wird alles noch schwierige­r. Denn eines dürfen Lehrer heutzutage grundsätzl­ich nicht mehr: Schüler körperlich angehen. Keinesfall­s. Ein Pädagoge, sagt Nigg-Klee, sei dieser Tage zu einer Geldbuße verurteilt worden. Ein 13-Jähriger habe ihn nicht nur verbal gereizt, sondern sei auf ihn losgegange­n. Ein Richter habe geurteilt, der Lehrer hätte den Buben als Reaktion trotzdem nicht an der Schulter packen dürfen.

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