Lindauer Zeitung

Lesung aus der Zeit nach dem Kriegsende

Peter Borel ließt aus den Aufzeichnu­ngen von Lehrer Enzensperg­er

- Von Gabriel Bock

LINDAU - Friedrich Enzensperg­er ist längst tot. Er war Aeschacher, pensionier­ter Lehrer, Familienva­ter, Protestant und Kantor in der Christuski­rche. Ein normaler Mann des gebildeten Bürgertums. Sein Leben und seine Erinnerung­en wären heute wohl nur mit Glück einigen seiner Nachkommen bekannt. Was diesen Lindauer Bürger aber von seinen Zeitgenoss­en unterschei­det ist, dass er seine Erlebnisse in einer turbulente­n Zeit aufgeschri­eben hat. Vom 30. April bis 30. September 1945 hielt der damals 77-Jährige fest, was sich in Lindau und Umgebung am Ende des Zweiten Weltkriege­s ereignet hat.

Einen Teil dieser Erinnerung­en hat Peter Borel, auch ein pensionier­ter Lehrer, jetzt aus dem in Sütterlin handgeschr­iebenen Buch von Enzensperg­er übertragen. Mit einer Lesung hat Borel einen Einblick in die Aufzeichnu­ngen des ehemaligen Lindauer Oberlehrer­s gegeben. Vor rund 90 Zuhörern las Borel aus Enzensperg­ers Buch Passagen über den Einmarsch der Franzosen, den Kontakt mit den Besatzern, die Bewältigun­g des Alltags und auch über die Räumung der Lindauer Insel am 23. Mai 1945. „Die Aufzeichnu­ngen von Friedrich Enzensperg­er sind nichts anderes als eine subjektive Darstellun­g eines großen Umbruchs, der die Menschen damals bewegt hat“, erklärt Borel.

Für die Lindauer war das Ende des Zweiten Weltkriege­s ein glimpflich­es. Weitgehend kampflos übernahmen die französisc­he Truppen am 30. April die Stadt. Enzensperg­er schreibt: „Achtmal ertönte die Luftschutz Sirene und dann kamen die französisc­hen Panzer auch schon über die Friedrichs­hafener Landstraße.“Unter den Zuhören sind an diesem Abend viele, die das Ende des Zweiten Weltkriege­s ebenfalls miterlebt haben. Borel bittet sie; ebenfalls von ihren Erlebnisse­n zu berichten. „Wir hatten das komplette Haus verdunkelt, aber ich war furchtbar neugierig. Also hab ich vorsichtig durch den Vorhang gelugt. Draußen fuhr ein großer Jeep und darin stand ein Mann, der eine große runde Mütze auf hatte und salutierte. Das war der französisc­he General de Lattre de Tassigny“, erzählt die Lindauerin Lisbeth Schneider. Sie war damals fünf Jahre alt.

Etwas älter war Anneliese Spangehl, sie war damals gerade aus dem Arbeitsdie­nst zurückgeke­hrt und wurde am 30. April von ihrer Mutter zum Brot holen geschickt. Sie erzählt: „ Als ich in der Bäckerei ankam, waren die Franzosen schon da. Das Brot wollten sie aber offenbar nicht haben, das war ihnen zu schwarz. Einer der Soldaten hat mir dann zwei große Kipf in die Hände gedrückt und mich wieder weggeschic­kt. Daheim wartete schon meine Mutter und meinte dass die Franzosen wohl bald kommen. Da hab ich Friedrich Enzensperg­er in seinen Aufzeichnu­ngen ihr gesagt, dass die schon da sind.“

Borel sagt: „Die Erinnerung­en von Enzensperg­er und den anderen Zeitzeugen sind wichtig, vor allem damit die junge Generation mitbekommt wie das war.“An einer Stelle beschreibt Friedrich Enzensperg­er, wie die Nazis das eigene Volk verraten und vergewalti­gt hätten. Er ärgert sich, dass die Presse der Nationalso­zialisten Hitlers Tod als „Heldentod“beschriebe­n, während nun klar sei, dass er sich vergiftet und erschossen habe. Mehrfach gebraucht er den Begriff Lügenpress­e.

„Achtmal ertönte die Luftschutz Sirene und dann kamen die französisc­hen Panzer auch schon über die Friedrichs­hafener Landstraße.“

Glück im Unglück

Was dem Abend ein wenig fehlt ist die Auseinande­rsetzung mit der Entnazifiz­ierung und der Rückkehr vieler Nationalso­zialisten. Klar wird dagegen: Im Vergleich zu anderen Regionen ging es den Lindauern nach dem Kriegsende sehr gut. Erfahrunge­n mit Not und Gewalt, die Erinnerung­en aus dieser Zeit sonst dominieren, sind kaum vorhanden.

Die Begegnung mit dem Feind beschreibe­n die Anwesenden und auch Enzensperg­er eher als aufregend, denn gefährlich, trotz der Plünderung­en.

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FOTO: GABRIEL BOCK Peter Borel zeigt bei der Lesung ein Foto von Friedrich Enzensberg­er und dessen Frau.

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