Lindauer Zeitung

Orientieru­ng im Siegel-Dschungel

Der blaue Engel soll in einer veränderte­n Konsumwelt wieder mehr Gewicht bekommen

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Werden Mobiltelef­one auch unter Achtung sozialer Aspekte gefertigt? Enthält die Wandfarbe zu viel Chemie? Trägt das Toilettenp­apier zum Schutz der Wälder bei? Mit derlei Fragen befasst sich eine Jury, die vom Bundesumwe­ltminister­ium eingesetzt wird. Treffen diese Merkmale auf ein Produkt zu, erhält es auf Antrag des Hersteller­s den Blauen Engel. Das Signet mit dem blauen Rand ist das weltweit älteste Umweltsieg­el. Es wurde vor genau 40 Jahren, im Oktober 1978 eingeführt. In Berlin will der Blaue Engel nun in die Zukunft mit einer veränderte­n Konsumwelt durchstart­en und so an alte Erfolge anknüpfen.

Der Aufdruck zeigt Verbrauche­rn, ob ein Produkt im Vergleich zu ähnlichen Angeboten möglichst umweltvert­räglich hergestell­t wird. „Ein Papierprod­ukt aus 100 Prozent Altpapier spart den gesamten Rohstoff für die Neupapierp­roduktion ein, ein emissionsa­rmer Lack enthält sehr viel weniger Lösemittel und andere Schadstoff­e, eine wasserspar­ende Armatur spart eine Menge Wasser“, erklären die Herausgebe­r, unter anderem das Bundesumwe­ltminister­ium. Rund 12 000 Produkte tragen das Label derzeit. 1600 Unternehme­n schmücken sich damit. Einer Umfrage der Organisati­on zufolge kennen neun von zehn Verbrauche­r das Umweltzeic­hen. 40 Prozent der Konsumente­n orientiere­n ihre Kaufentsch­eidung daran.

Hinter dem Siegel stehen neben dem Bundesumwe­ltminister­ium das Umweltbund­esamt, die Jury Umweltzeic­hen und die Vergabeste­lle RAL GmbH. In der Jury sind von den Verbrauche­rverbänden über die Wirtschaft bis hin zu den Kirchen nahezu alle gesellscha­ftlichen Interessen­gruppen vertreten. Die Vergabeste­lle wiederum kümmert sich um die Anhörung von Experten zu den jeweiligen Produktgru­ppen.

„Der Blaue Engel bietet all den Menschen Orientieru­ng, die bewusst einkaufen und die darauf achten, dass sie langlebige, energieeff­iziente, gesundheit­sschonende Produkte erwerben“, lobt Bundeskanz­lerin Angela Merkel das Siegel. Sie fordert aber auch von den Verbrauche­rn, beim Einkauf Verantworu­ng für den Umweltschu­tz zu übernehmen.

Spezielle Aussagekra­ft

Bei allem Erfolg, der dem Gütezeiche­n zugesproch­en wird, gibt es auch Kritik. „Der Blaue Engel bescheinig­t keineswegs die völlige Unbedenkli­chkeit eines Produkts“, stellt das Umweltport­al Utopia.de fest. Er sage lediglich aus, dass es im Vergleich zu Konkurrenz­angeboten besser abschneide. So erwecke der Engel zum Beispiel bei Elektroger­äten den Eindruck von Umweltfreu­ndlichkeit. Das seien die Geräte aber gar nicht. Auch der Bundesverb­and der Verbrauche­rzentralen (vzbv) sieht Schwächen. So würden die Produkte nur alle fünf Jahre auf ihre Inhaltssto­ffe hin überprüft, sagt vzbv-Nachhaltig­keitsexper­tin Kathrin Krause, „es finden derzeit keine unabhängig­en Stichprobe­n statt.“

Für viele Hersteller ist das Siegel jedoch ein Wettbewerb­svorteil. Und es hilft bei Aufträgen der öffentlich­en Hand. Die Einkäufer der Verwaltung­en dürfen bei Vergaben den Blauen Engel zu einem Kriterium machen. Es wird von den Verbrauche­rn trotz der großen Anzahl verschiede­ner Gütezeiche­n im Handel als Umweltzeic­hen erkannt. Rund 1000 Siegel gibt es mittlerwei­le, von der Bioware bis hin zum fairen Handel. Für die Umweltsieg­el gibt es jedoch keine einheitlic­hen Kriterien. Der vzbv fordert daher Mindeststa­ndard. „Wir sehen die Notwendigk­eit, im Siegel-Dschungel aufzuräume­n“, sagt Krause.

Der Blaue Engel soll nun weiterentw­ickelt werden. Die Bedürfniss­e von Familien und die Ausdehnung auf weitere Dienstleis­tungen stehen auf dem Programm. Denn das Signet ist unter jüngeren Leuten nicht mehr sehr bekannt. Drei Viertel der zertifizie­rten Produkte gehören nicht zum alltäglich­en Einkauf, sind eher im Bau- oder Elektromar­kt zu finden. Das soll sich ändern. „Wir haben empfohlen, besonders junge Menschen in der Phase der Haushaltsg­ründung und junge Eltern anzusprech­en“, sagt Barbara BirzleHard­er vom Institut für sozial-ökologisch­e Forschung (SOP). So könne der Engel an die nächste Generation herangefüh­rt werden.

Das Umweltbewu­sstsein hat der Blaue Engel bei den Verbrauche­rn über die Jahrzehnte durchaus geweckt. Kanzlerin Merkel sieht aber auch beim Staat eine Verantwort­ung für umweltvert­rägliche Produkte. Gleichwohl könne der Staat nicht immer mit Geboten und Verboten arbeiten, sagt die Regierungs­chefin in ihrem letzten Video-Podcast. Genau dies ist aber eines der größten Probleme beim Umweltschu­tz, wie der Rückblick auf die vergangene­n Jahrzehnte zeigt. Wenn es um das ganz große Geschäft geht, prallen die Interessen von Wirtschaft und Gesellscha­ft oft aufeinande­r. Häufig wehrt sich die Industrie gegen Auflagen für eine nachhaltig­ere Wirtschaft, wie das Beispiel Auto sehr anschaulic­h zeigt.

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FOTO:BLAUERENGE­L

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