„Man wird mit Macht versuchen, die Große Koalition zu retten“
Parteienforscher Jürgen Falter zu den Auswirkungen der Landtagswahl in Hessen auf die Berliner Politik
BERLIN - Parteienforscher Jürgen Falter glaubt nicht, dass es angesichts der Verluste von CDU und SPD in Hessen bald zu Neuwahlen im Bund kommt. Andreas Herholz hat den Politikwissenschaftler der Universität Mainz befragt.
Herr Professor Falter, auch in Hessen sind Union und SPD die großen Wahlverlierer. Erleben wir das Ende der Volksparteien?
Das Ende der stabilen Volksparteien, die regelmäßig sehr hohe Werte einfahren, hat längst begonnen. Das ist auch nicht mehr reversibel. Eine Partei kann allerdings auch in Zukunft einmal überdurchschnittlich abschneiden, wenn sie einen überzeugenden Spitzenkandidaten ins Rennen schickt, wenn sie ein populäres Thema auf ihrer Seite hat und die Bürger ihr zutrauen, die Kompetenz zur Lösung der Probleme zu haben. Unter solchen Umständen kann die CDU auch deutlich über die Marke von 30 Prozent kommen und die SPD hätte ebenfalls die Möglichkeit, ein besseres Resultat zu erzielen.
Ist in Berlin nach diesen Verlusten von CDU und SPD ein Weiter-So möglich? Oder geraten die Parteichefinnen Angela Merkel und Andrea Nahles noch stärker unter Druck?
Für Angela Merkel kann beim CDUParteitag schlimmstenfalls ein schlechteres Ergebnis als beim letzten Mal herauskommen, falls nicht noch ein Schwergewicht aus der Partei in den Ring tritt. Die bisherigen Gegenkandidaten haben nicht die Spur einer Chance. Wenn ein Friedrich Merz antreten würde, könnte es anders laufen. Ich rechne auch nicht damit, dass die SPD wirklich die Große Koalition aufkündigen wird. Denn die Folge wären wohl Neuwahlen und damit die nächste Katastrophe für die Sozialdemokraten. Dann müsste mindestens ein Drittel der SPD-Abgeordneten im Bundestag um ihren Job fürchten.
Ein „Weiter-so“der Großen Koalition in Berlin vorerst?
Richtig. Man wird mit Macht versuchen, die Große Koalition zu retten. Das werden zumindest die Führungskräfte der beteiligten Parteien versuchen. Weder die Union noch die SPD werden auf Neuwahlen setzen. Angesichts der schlechten Umfragen müssen sich beide erst einmal erholen. Die Union würde eher versuchen, eine Minderheitsregierung zu stellen oder einen zweiten Anlauf zu einer Jamaika-Koalition zu nehmen, also ein Bündnis mit Grünen und FDP. Jamaika ist auch in Hessen vorstellbar, schon weil die FDP dort flexibler ist als die Bundespartei. Und auch der Bundesvorsitzende Christian Lindner hat ja gesagt, dass Jamaika ohne Merkel durchaus denkbar wäre.
Andererseits wächst der Frust über den dramatischen Niedergang bei Union und SPD von Wahl zu Wahl. Ist die Große Koalition der Sargnagel für die Volksparteien?
Eine Große Koalition erfordert immer große Kompromisse und das erzeugt Unzufriedenheit bei den Wählern dieser Parteien. Die haben etwas anderes erwartet als solche Abstriche am Programm. Insofern waren Große Koalitionen immer ein Notnagel. Wenn sich die aber immer fortsetzen, werden die beteiligten Parteien geschleift.
In Hessen ist die Rede von einem Koalitionsroulette. Werden Mehrparteien-Bündnisse in Zukunft die Regel sein?
Das zeichnet sich seit einiger Zeit ab. Auch auf Bundesebene war das ja bei den Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis zu sehen. Die Große Koalition war ja wirklich nur ein Notbehelf. Das dürfte in Zukunft häufiger auftreten. Denn wenn die Großen nicht mehr groß sind und die Kleinen größer werden, wird dies immer wieder passieren.