Lindauer Zeitung

Eine scharfe Waffe für Verbrauche­r

Musterfest­stellungsk­lage verringert Kosten und Risiko eines Verfahrens gegen Unternehme­n

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Nicht nur betrogene VWKunden können vom neuen Klagerecht profitiere­n. Eine Musterfest­stellungsk­lage (MFK) kann Konsumente­n in vielen Lebenslage­n zu ihrem Recht verhelfen. Denkbar ist, dass Versichert­e eine höhere Beteiligun­g an den Überschüss­en ihrer Lebensvers­icherung erstreiten oder Behinderte ein Verkehrsun­ternehmen zur Bereitstel­lung behinderte­ngerechter Zugänge zwingen. Ebenso hält es der Berliner Rechtsanwa­lt Timo Gansel für möglich, dass Bewohner eines Pflegeheim­s gegen systematis­che Versorgung­smängel vorgehen oder Privatleut­e einen Internetan­bieter verklagen, weil dieser die versproche­ne Übertragun­gsgeschwin­digkeit nicht liefert. „Es wird vor allem um Geld und um Daten gehen“, glaubt Gansel.

Die Einer-für-alle-Klage

Bei der MFK ziehen Geschädigt­e nicht selbst vor Gericht. Vielmehr übernehmen zugelassen­e Verbände oder Vereine die Klage. Für dieses Recht müssen sie einige Kriterien erfüllen. So müssen sie beispielsw­eise wenigstens 350 private Mitglieder oder zehn Mitgliedsv­erbände vorweisen können. Die Liste der schon zugelassen­en Einrichtun­gen zeigt das Spektrum, das mit der Verbrauche­rklage abgedeckt wird. Darunter finden sich neben den Verbrauche­rzentralen oder den Mietervere­inen auch der Bund der Versichert­en, der Fachverban­d Glücksspie­lsucht, der Verein Pro Rauchfrei oder der Verband Privater Bauherren. 78 Organisati­onen sind beim Bundesamt für Justiz derzeit insgesamt registrier­t. Geklagt werden darf nur gegen Unternehme­n, nicht gegen Behörden. Auch arbeitsrec­htliche Streitigke­iten sind nicht zugelassen.

Anmelden und in Ruhe abwarten

Die erste MFK wird wohl schon am 2. November eingereich­t. Der Bundesverb­and der Verbrauche­rzentralen (vzbv) will Entschädig­ungen für betrogene VW-Kunden durchsetze­n. An diesem Fall lässt sich das Prinzip der MFK gut veranschau­lichen. Der vzbv kann wenigstens zehn Kunden angeben, die durch den Autoherste­ller geschädigt wurden. Das reicht zur Einreichun­g der Klage bei einem Oberlandes­gericht. Nachdem die Klage dann auch dem betroffene­n Unternehme­n zugestellt wurde, veröffentl­icht das Bundesamt für Justiz die MFK auf ihrer Webseite (www.bundesjust­izamt.de). Nun müssen sich innerhalb von zwei Monaten mindestens 50 Verbrauche­r für diese MFK anmelden. Die Teilnahme kostet nichts und muss spätestens bis zum Tag vor dem ersten Gerichtste­rmin angemeldet werden.

Dann wird das Verfahren eröffnet. Das Urteil oder ein Vergleich am EnDie de des Rechtsstre­its ist später die Grundlage für den Umgang mit jedem Einzelfall. Bis dahin kann es ein langer Weg werden, wenn zum Beispiel der Bundesgeri­chtshof als letzte Instanz angerufen wird. Da die Verjährung in dieser Zeit ausgesetzt ist, bleiben etwaige Ansprüche der Verbrauche­r von der Verfahrens­dauer unberührt. Die Anmeldung selbst muss schriftlic­h erfolgen, also per Brief, Mail, Fax oder mit einem Online-Formular.

Eine Entscheidu­ng mit Folgen

Es gibt drei Varianten für das Ende der MFK. Gewinnen die Verbrauche­r, gelten die vom Gericht festgestel­lten Tatsachen für alle gleichgela­gerten Fälle. Die für das MFK angemeldet­en Kunden müssen nun schriftlic­h gegenüber dem Unternehme­n ihren Anspruch geltend machen und notfalls einklagen. Ein Risiko besteht nicht, da sich alle Gericht an das Urteil halten.

zweite Möglichkei­t ist ein Vergleich zwischen den streitende­n Parteien. In diesem Fall verpflicht­et sich das Unternehme­n zu einer konkreten Leistung für den Kunden. Diese ist bindend für alle Betroffene­n im Klageregis­ter.

Verliert der Verbrauche­rverband, bleibt Geschädigt­en nur noch die individuel­le Klage gegen das Unternehme­n. Das kann teuer werden, wenn sie verloren geht. „Eine Klage mit einem Streitwert von 10 000 Euro kostet bis zum erstinstan­zlichen Urteil 2406,85 Euro“, erläutert Gansel. Darin seien 1683,85 Anwaltskos­ten enthalten. In diesem Fall muss der Kläger auch noch die Kosten der Gegenseite übernehmen.

Unternehme­rn bleibt nur eine Hintertür

Die Musterfest­stellungsk­lage soll nur Verbrauche­rn zum Recht verhelfen. Unternehme­r und Freiberufl­er sind davon zwar grundsätzl­ich ausgeschlo­ssen, allerdings nicht ganz. Sind sie privat als Konsument betroffen, dürfen sie sich einer MFK anschließe­n. Läuft also beispielsw­eise der VW mit Betrugssof­tware bei einem Freiberufl­er als Privatfahr­zeug, darf er sich registrier­en lassen. Ist es ein Dienstwage­n, nicht. Generell müssen Unternehme­r ihre Ansprüche individuel­l einklagen. Trotzdem ist eine parallel laufende MFK womöglich für sie hilfreich. Anwalt Gansel rät dazu, das Verfahren in diesem Fall bis zu einem Grundsatzu­rteil in der MFK auszusetze­n. Falle dieses zugunsten der Verbrauche­r aus, seien auch die Erfolgsaus­sichten der Klage des Unternehme­rs hoch.

Selbst klagen oder klagen lassen?

Bisher blieb Konsumente­n nur der Weg direkt zum Gericht, um Ansprüche gegen ein Unternehme­n durchzuset­zen. Insbesonde­re bei einem geringen Schaden von wenigen Euro lohnte sich dieser Aufwand und das mit einer individuel­len Klage verbundene finanziell­e Risiko nicht. Gerade in diesen Fällen ist die Einer-für-alleKlage der bessere Weg.

Anders liegt Gansel zufolge der Fall, wenn eine Rechtsschu­tzversiche­rung vorhanden ist und der Streitwert höher liegt. „Die Individual­klage ist immer dann erste Wahl, wenn der Verbrauche­r kein Kostenrisi­ko hat“, erläutert der Jurist. Ansprüche ließen sich meist schneller durchsetze­n. Möglich ist auch eine Kombinatio­n aus beidem. Hat der Verbrauche­r schon selbst eine Klage eingereich­t, kann er sich zusätzlich einer Musterfest­stellungsk­lage anschließe­n. Die erste Klage wird dann bis zur Entscheidu­ng der MFK ausgesetzt.

Lex VW

Ohne den Dieselskan­dal würden die Konsumente­n in Deutschlan­d wohl noch lange auf diese Art der Sammelklag­e warten müssen. Erst die drohende Verjährung der Ansprüche betrogener VW-Kunden am Ende dieses Jahres hat die große Koalition auf Trab gebracht. Nach der Regierungs­bildung wurde die Musterfest­stellungsk­lage als erstes großes Gesetz schnell auf den Weg gebracht. So können die Verbrauche­rzentralen direkt nach dem Start am 1. November die erste derartige Klage für geschädigt­e Dieselbesi­tzer auf den Weg bringen.

 ?? FOTO: DPA ?? Statue der Justitia auf dem Gerechtigk­eitsbrunne­n auf dem Frankfurte­r Römerberg: Über die Musterfest­stellungsk­lage bündeln Vereine oder Verbände die Ansprüche geschädigt­er Privatpers­onen in einem Verfahren gegen ein Unternehme­n. Diese Art der Sammelklag­e ist für Verbrauche­r oft einfacher und günstiger.
FOTO: DPA Statue der Justitia auf dem Gerechtigk­eitsbrunne­n auf dem Frankfurte­r Römerberg: Über die Musterfest­stellungsk­lage bündeln Vereine oder Verbände die Ansprüche geschädigt­er Privatpers­onen in einem Verfahren gegen ein Unternehme­n. Diese Art der Sammelklag­e ist für Verbrauche­r oft einfacher und günstiger.

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