Der „Strom“, in den er einen hineinzieht
Martin Kohlstedt tritt zum zweiten Mal im Zeughaus auf
LINDAU - Ins Zeughaus habe Martin Kohlstedt unbedingt wieder gewollt und Vereinsvorsitzender Martin Fürhaupter hat ihm diesen Wunsch prompt erfüllt. Am Samstagabend war der Saal für seinen zweiten Lindauer Auftritt nahezu ausgebucht. Angespannte Stille herrschte für diesen so unscheinbaren Musiker, der einen mit den ersten Klavierakkorden in seinen Bann schlägt und das über 90 Minuten aufrechterhält. Im Mai 2017 war er erstmals mit „Tag & Nacht – Piano und Mehr“dort. Jetzt mit dem neuen Album „Strom“.
Martin Kohlstedt kommt, schaut, setzt sich und spielt. Vor knapp einem Jahr ist er im großen Saal der Hamburger Elbphilharmonie aufgetreten. Als Solist an Klavier und einem Equipment aus Electronics, darunter Fender Rhodes, Synthesizer, Sampler, Beats und Verstärker. Kaum vorstellbar mag es einem scheinen, doch wenn der 30-jährige Musiker und Komponist aus Weimar in seine Welt abtaucht, blendet er alles um sich herum aus. Zumindest sieht das für den Zuschauer so aus.
„Ich lasse meine Maschinen für mich sprechen“
In Wirklichkeit führe er ein Gespräch mit seinem Instrument und eines mit dem Publikum. Ob es sich dabei um „Scharlatanereien“handele, wie sich beim ersten Lindauer Gastspiel eine Besucherin empört haben soll, bleibt dahingestellt. Martin Kohlstedt reagierte darauf kurz und bündig mit: „Ich lasse meine Maschinen für mich sprechen.“
Etwas mulmig wird ihm im ausverkauften Saal der Elbphilharmonie zumute gewesen sein. So mitten drin und von allen Seiten einsehbar, wo er seinem Publikum doch in der Regel den Rücken zukehrt. Er komme vom Land, genauer gesagt aus Breitenworbis in Thüringen. Ein Freund habe ihn während Schulzeiten abends abholen wollen. Nur dass dieser nicht kam, während Kohlstedt daheim am Klavier saß und „was in c-Moll“gespielt habe. Vier Stunden lang nonstop. Hunger und Rückenschmerzen hätten sich dann gemeldet. Aber nicht nur das. Es war eine Initialzündung, die ihm den Weg ins Unterbewusste gezeigt habe. Das ist es, was er immer noch brauche.
Und genau das ist es, was die Faszination an Martin Kohlstedt ausmacht. Ihn – seinen Rücken, seine Mimik und sein Fingerspiel – dabei zu erleben, wie er sich dem eigens inszenierten Strom hingibt, mit ihm wächst und manchmal auch scheitert. Auch bei diesem zweiten Auftritt war das exzeptionell.
Hin und weg seien sie gewesen, schwärmten Besucher. Andere schlossen für 90 Minuten die Augen, um das Meditative auszukosten. Das meint beileibe nicht allein lyrischpoetische, harmonisch überquellende Akkordfolgen, wie sie oft am Anfang der Werke stehen. Werke, die sich „GOL“, „LEH“oder „OMB“nennen. Bei denen Kohlstedt von „modularen Kompositionen“spricht, die jeweils durch drei Buchstaben gekennzeichnet sind. Das hört sich technisch an und was das Equipment angeht, ist es das auch. Nur tönen die Werke nie kopflastig. Eher kosmischsphärisch und einer Jazzlyrik auf engstem Tastenraum verhaftet. Sie geben sich ganz dem Moment hin, sind Improvisationen und dauernde Fortführungen von Bestehendem.
Kohlstedt ist zugleich ein Faszinosum und ein Bodenständiger, der die Zuhörer begrüßt mit: „Hallo, schön, dass ihr wieder alle da seid! Ich brauche sowieso immer einen, um so richtig klarzukommen.“Gemeint ist sein pulsierendes Intro, das voller Lebenslust vorwärts drängt. Das, sobald er sich auf seinem Drehhocker vom Klavier hin zu den Electronics wendet, beginnt zu dröhnen und zu rauschen. Den Kulminationspunkt erreicht sein Sound, wenn sich beides – Akustik und Elektronik – miteinander verwebt. Es mit ihm durchzugehen scheint und er erst einmal wieder zu Atem kommen muss. Das sind Augenblicke höchster Lust, die sich in Kohlstedts Gestik abzeichnet. Das ist der Strom, in den er einen hineinzieht.