Die Pogromnacht und ihre Vorgeschichte
Von einem Tag auf den anderen mussten die polnischen Juden Deutschland verlassen
ls Herschel (Hermann) Grynszpans Onkel am 7. November 1938 die Nachricht von seinem Neffen erhält, ist es schon zu spät. „Ich konnte nicht anders. Mir blutet das Herz, wenn ich an unsere Tragödie und an die der 12 000 Juden denke. Ich muss auf eine Weise protestieren, dass die ganze Welt meinen Protest hört, und das habe ich vor. Ich bitte dich um Vergebung.“Da hatte Herschel schon in Paris eine Pistole gekauft, war damit in die deutsche Botschaft gegangen und hatte um ein Gespräch mit dem Botschafter gebeten. Er wurde in das Büro des Ersten Sekretärs, Ernst vom Rath, geführt. Dort schoss er auf den Diplomaten und verwundete ihn tödlich. Es war nicht nur sein Protest, den die ganze Welt hörte, noch mehr aber dessen Folgen.
Tatsächlich waren es nicht nur 12 000 Juden sondern 17 000, die der 17-jährige Herschel rächen wollte. Polizisten und Gestapo-Beamte hatten sie am 27. und 28. Oktober überall in Deutschland aus ihren Wohnungen und von ihren Arbeitsplätzen weg in Sammellager geführt und mit Sonderzügen an die polnische Grenze gefahren. Dort wurden sie völlig mittellos über die Demarkationslinie ins Nachbarland getrieben. Diese sogenannte Polenaktion, das bis dahin wohl brutalste Vorgehen der Nationalsozialisten gegen Juden, hat eine Vorgeschichte, die symptomatisch ● A ist für den damaligen Antisemitismus nicht nur in Deutschland sondern in ganz Europa.
Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich Mitte März 1938 werden die dort lebenden Juden grausam verfolgt. Viele von ihnen versuchen in die Nachbarstaaten zu entkommen. Etwa 20 000 von ihnen sind polnische Staatsangehörige. Die Regierung in Warschau befürchtet, dass diese nun zurück nach Polen drängen könnten, und eben dies will sie verhindern. Am 31. März 1938 verabschiedet das Parlament in Warschau ein Gesetz, das es unter bestimmten Bedingungen erlaubt, Auslandspolen die Staatsangehörigkeit zu entziehen.
Die Polen sind damit übrigens nicht die Einzigen. Auch die Schweizer machen sich solche Sorgen. „Wenn wir einer unseres Landes unwürdigen antisemitischen Bewegung nicht berechtigten Boden schaffen wollen, müssen wir uns mit aller Kraft und, wo es nötig sein sollte, auch mit Rücksichtslosigkeit der Zuwanderung ausländischer Juden erwehren“, heißt es in einem Protokoll des Schweizerischen Bundesrats vom 28. März 1938. Er will den allgemeinen Antisemitismus unter Berufung auf den eigenen Antisemitismus verhindern.
Deutsche Behörden versuchen vergeblich, in Verhandlungen mit den Polen Änderungen zu erreichen. Vielmehr verkünden die Polen im Oktober einen Erlass, nach dem ab dem 31. Oktober 1938 nur noch jene Pässe von Auslandspolen gültig sind, deren Inhaber nicht länger als fünf Jahre im Ausland leben. Zu der Zeit wohnen etwa 56 500 polnische Staatsbürger in Deutschland. Die allermeisten sind ab dem 1. November staatenlos und können nicht mehr aus Deutschland ausreisen. Das aber widerspricht der NS-Politik, Juden mit allen Mitteln aus dem Reich zu drängen.
Der Bericht des Julius Rosenzweig
Das Auswärtige Amt in Berlin reagiert sofort und bittet die Gestapo um Amtshilfe. Der damals 29-jährige Julius Rosenzweig besucht am 27. Oktober einen Bekannten, als zwei Gestapo-Männer auftauchen. „Die Beamten hießen uns dann mitgehen, und auf unsere Fragen antworteten sie, dass es jetzt nach Palästina ginge. (...) Das fassten wir nur als Witz auf.“Rosenzweig wird zusammen mit einer schnell wachsenden Zahl weiterer Juden in einem Saal festgehalten. „Jeder bekam einen vorgedruckten Schein in die Hand, auf dem stand, dass wir laut Gesetz so und so auf Anordnung des Reichsführers SS ausgewiesen werden und das Reich noch vor Ablauf des 29. Oktober verlassen müssen. (…) Es ging auf die Straße hinaus, wo es stark regnete, im Hausflur standen Neugierige, auf der Straße auch, aus allen Fenstern raus sahen welche.“Die Juden werden in einen Sonderzug gepfercht, hinter Beuthen müssen sie kurz nach Mitternacht nahe der Grenze aussteigen. „Dann ging es auf die finstere Straße hinaus. Links und rechts SS-Spalier, wir in Viererreihen, die SS trieb uns an, schneller zu gehen, ohne Rücksicht auf Frauen und alte Leute, ohne Rücksicht auf die, die Koffer in den Händen trugen. Immer weiter ging es in die finstere Nacht … Ein großes Gedränge, ein Weinen, Schreien, Drohen seitens der SS, Stoßen, Schlagen. Es war da ein Bach, und die SS stieß jeden in den Bach hinein, alle stürzten über alle, und die SS half noch mit Gummiknüppeln, Ochsenziemern, Revolverkolben nach und drohte mit Erschießen, wenn ja einer umkehren wollte. (…) Der Bach bildete die Grenze Deutschland – Polen. Nachdem wir glücklich aus dem Bach herausgeklettert waren mit vermatschten Hosen und Schuhen, waren wir auf polnischem Boden, auf einem freien Feld, lehmiger Boden, dazu regnerisches Wetter.“
Reich-Ranickis Schicksal
Als die Vertriebenen auf polnische Grenzposten treffen, wollen diese sie nicht weiterlassen, obwohl die meisten noch gültige Pässe besitzen. Aber zurück nach Deutschland können die Menschen auch nicht. So irren sie im Niemandsland umher, geschwächt, durchnässt und verängstigt. Gegen vier Uhr morgens sitzt Rosenzweig mit einer Gruppe anderer Juden zwischen polnischen Grenzposten auf der einen und SSMännern auf der anderen Seite. „Die Posten debattierten heftig wegen uns. Die SS sagte, wir gehören zu Polen, und die Polen sagten wieder, wir wollten ihnen das Brot wegnehmen.“Dann landet die Gruppe wieder in Deutschland, und die SS-Männer führen sie auf einer Straße zu einem offiziellen Grenzübergang. „Am Schlagbaum, das war nun die legale Grenze, waren wir wieder frei von den Hitleristen, und jetzt wurden wir von den Polen übernommen.“Rosenzweig ist erst einmal in Sicherheit, aber er besitzt nicht mehr, als er auf dem Leibe trägt. Trotzdem ist er damit noch besser dran als viele andere der abgeschobenen Juden. Sie irren oft noch tagelang bei Kälte und Nässe im Niemandsland umher, und nicht alle überleben diese Strapaze.
Noch mehr Glück im Unglück hat ein gewisser Marcel Reich-Ranicki, der am frühen Morgen des 28. Oktober in seiner Wohnung von einem Polizisten geweckt wird. Auch er bekommt jenes Dokument ausgehändigt, das ihm die Deportation nach Polen verkündet. Fünf Reichsmark und eine Aktentasche darf er mitnehmen, in die er ein Reservetaschentuch und einen Roman von Honoré de Balzac steckt. Auf der Polizeiwache trifft er „Juden und nur Männer, alle älter als ich, der Achtzehnjährige. Sie sprachen tadellos Deutsch und kein Wort Polnisch. Sie waren in Deutschland geboren oder als ganz kleine Kinder hergekommen und hier zur Schule gegangen. Doch hatten sie allesamt, das erfuhr ich bald, aus irgendwelchen Gründen einen polnischen Pass – ebenso wie ich.“
In einem fremden Land
Als die Eisenbahn mit Reich-Ranicki an der Grenze ankommt, wird er in einen polnischen Zug getrieben. Aus unerfindlichen Gründen sind die Polen bereit, diese Gruppe einreisen zu lassen. Aber es wird eine Fahrt ins Ungewisse. „Was würde in Polen aus mir werden? (…) Was sollte ich in dem Land machen, das mir vollkommen fremd war, dessen Sprache ich zwar verstand, doch nur mühselig und kümmerlich sprechen konnte? Was sollte ich in Polen anfangen, ich, der ich keinen Beruf hatte und auch keine Chance sah, dort einen zu erlernen? Mein Gepäck, das war jene Aktentasche mit dem Balzac-Roman und dem Reservetaschentuch. Aber ich hatte noch etwas auf die Reise mitgenommen, was freilich unsichtbar war. (…) Ich konnte damals nicht ahnen, welche Rolle in meinem künftigen Leben diesem unsichtbaren, diesem, wie ich befürchtete, jetzt unnützen und überflüssigen Gepäck dereinst zufallen würde. Denn ich hatte aus dem Land, aus dem ich nun vertrieben wurde, die Sprache mitgenommen, die deutsche, und die Literatur, die deutsche.“
Die Grynszpans im Niemandsland
Unter den Deportierten, die lange im Niemandsland herumirren müssen, befindet sich auch die Familie Grynszpan aus Hannover. Seit 1911 lebt sie dort. Während die Eltern mit ihren beiden Töchtern abgeschoben werden, lebt der Sohn Herschel in Paris. Sein polnischer Pass ist im Februar 1938 abgelaufen, das Wiedereinreisevisum für Deutschland seit Oktober 1937 ungültig. Herschel ist damit staatenlos, ein Illegaler in Frankreich, ohne Arbeit und Kostgänger von Verwandten. Am 3. Oktober erhält er eine Postkarte aus dem polnisch-deutschen Grenzort Zbaszy (Bentschen) von seiner Schwester Berta. „Ich packte einen Koffer mit den notwendigsten Kleidungsstücken. Das ist alles, was ich retten konnte. Wir haben nicht einen Pfennig. Mehr im nächsten Brief. Liebe Grüße und Küsse von uns allen. Berta.“Wenige Tage später kauft Herschel die Pistole und schießt auf vom Rath. Ohne es zu ahnen, hat er damit die Lunte ins Pulverfass geworfen.